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Whiskey für alle

Whiskey für alle

Titel: Whiskey für alle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John B. Keane
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zuvor gegen das Licht gehalten und geprüft zu haben, ob etwaige Fremdkörper darin wären. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass alles seine Ordnung hatte, unterzog er die rostige Schreibfeder einer Inspektion. Die fiel nicht zu seiner Zufriedenheit aus, und so steckte er sie sich in den Mund, drehte den Halter mehrfach rundherum und saugte daran wie an einem Lutschbonbon. Dann beförderte er sie wieder ans Tageslicht und beäugte sie aus nächster Nähe. Getrocknet wurde sie, indem er sie einfach auf dem Ärmel seiner Jacke abrieb. Danach benetzte er den Daumen seiner rechten Hand mit der Zunge, hob das Notizbuch in Augenhöhe und blätterte mit angefeuchtetem Finger die ausgefransten Blätter um. Schließlich zeigte ein tiefes Aufseufzen, dass er gefunden hatte, was er suchte.
    »Thomas Ignatius Augustine Leary«, psalmodierte er wie ein Pfarrer in der Kirche. »Two forty-seven, East Two Sixty-second Street, City of New York, United States of America«, fuhr er fort, den Tonfall der Amerikaner imitierend. Dann machte er sich daran, die Adresse sorgsam auf den Notizblock zu schreiben. Während er schrieb, waren alle mucksmäuschenstill; man hätte eine Nadel zu Boden fallen hören können. Niemand regte sich, bis er fast mit seiner Aufgabe fertig war. Dann bedeckte, für alle völlig unerwartet, seine Schwester Bridgeen mit einer Hand den Busen halb und mit der anderen den Mund ganz und holte erschrocken deutlich hörbar Luft. Es kam einer Gotteslästerung gleich und zerstörte die Konzentration des Schreibers, als hätte jemand genau über seinem Kopf eine Schrotflinte abgefeuert. Nicht, dass er vom Stuhl aufsprang und seiner Schwester eine Flut grässlicher Schimpfwörter entgegenschleuderte. Er faltete lediglich die Hände, doch sein Gesicht verfärbte sich unheilvoll. Einige Sekunden herrschte nervenzerfetzende Stille. Neddy Leary schloss die Augen und sprach: »Ist hier jemand zugegen, der etwas zu sagen wünscht?« Die Stimme zitterte vor Erregung. Er strengte sich mächtig an, sich zu beherrschen.
    »Das mit dem Geräusch war ich«, äußerte sich Bridgeen, ohne auch nur die mindeste Entschuldigung anzudeuten.
    »Und warum?« Neddy trommelte mit den Fingern inquisitorisch auf den Tisch.
    »Weil das die alte Adresse ist«, sagte seine Schwester sarkastisch. Das war eine derart unerhörte Überschreitung des Erlaubten, dass man sie schlicht und einfach ignorieren musste. Dem Oberhaupt des Hauses in Gegenwart von Fremden zu widersprechen war ein Frevel und konnte nicht geduldet werden. Im Augenblick blieb nur die Alternative, so zu tun, als hätte die Frau überhaupt nichts gesagt. Ohne Eile schrieb Neddy die Adresse zu Ende, stand auf, ging zum Feuer und hielt das Blatt hoch, damit die Tinte trocknete. Während er damit beschäftigt war, beging seine Frau die zweite unverzeihliche Sünde an jenem Nachmittag.
    »Pass auf, du versengst es gleich!«, rief sie. Seinem Gesichtsausdruck war abzulesen, dass Neddy gewillt war, auch diese Bemerkung so zu behandeln wie die vorhergehende. Als die Tinte trocken war, faltete er das Blatt zusammen und überreichte es meiner Mutter. Seine Hände zitterten, gebändigte Wut glomm in seinen dunklen Augen.
    »Ich wünsche dem Jungen viel Glück«, sagte er ruhig, »und Ihnen einen guten Heimweg.«
    »Ehe wir gehen, möchte ich Ihnen danken, dass Sie uns so freundlich entgegengekommen sind«, erwiderte meine Mutter.
    Als Frau mit Gespür fiel es ihr nicht schwer, die Zeichen des nahenden Sturms zu lesen. Jeden Moment konnte der Blitz aufzucken und der Donner krachen und rollen. Spannung lag in der Luft, man spürte sie förmlich in den Fingerspitzen.
    »Es ist höchste Zeit zu gehen«, meinte meine Mutter und schubste mich zur Tür, die Neddy Leary schon eilfertig geöffnet hatte. Wie immer war Dinny Colman auch diesmal darauf aus, die Sache noch etwas hinzuziehen. Er postierte sich im Türrahmen und gab sich den Anschein, die wundervolle Landschaft zu bewundern, während er in Wirklichkeit nur warten wollte, bis der Streit richtig ausbrach. Er genoss das bereits, doch es sollte anders kommen, als er gedacht hatte. Hinter ihm stand Neddy Leary, der die Tür schließen und seinem Ärger endlich freien Lauf lassen wollte. Da Dinny sich nicht rührte, hob Neddy den rechten Fuß und drückte die Sohle seines Stiefels mit Wucht auf Dinnys Hintern. Der Bursche schoss ganz unfeierlich nach vorn und landete mit allen vieren auf der Erde. Kaum hatte Neddy zugetreten, knallte er die

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