Whisper (German Edition)
muss zuerst der Boiler beheizt werden. Ansonsten ist hier das Wasser kalt. Ich werde dich holen, wenn wir uns drüben versammeln, okay?“
Nein, er erwartete keine Antwort. Er erwartete eigentlich nichts, sondern schloss die Tür hinter Jasmin, nachdem er ihren Koffer in das Zimmer geschoben hatte. Wenn sie etwas brauchte, musste sie lernen, sich zu melden. Ob sie das aber wirklich tun würde, das wagte Stefan zu bezweifeln.
Das Mädchen blieb mitten im Raum stehen und starrte auf ihr Gepäck, das Bett und knautschte dabei die Tasche in ihren Händen. Frankensteins Monster, Zombie, Mumie, gerade aus dem Grab entstiegen, The Monsters, Die-vom-Nilpferd-Getretene, alles Ausdrücke, die sie in- und auswendig kannte, und je mehr sie sich bemühte, sie zu überhören, desto mehr trafen sie sie ins Herz. Man hatte ihr versprochen, ihr Gesicht zu reparieren. Mehrere plastische Operationen waren dazu nötig. Man wollte ganze Hautteile ihrem Oberschenkel entnehmen und sie in ihrem Gesicht einsetzen, um damit die Narben zu verwischen. Ein schöneres Antlitz sollte es sein, wenn auch ein Fremdes. Doch der Heilung ihrer Hände wurde Priorität eingeräumt, dann kam sie selbst. Ihre Psyche hätte stark gelitten, sogar schwere Schäden davongetragen. Zumindest hatte sie das durch die Tür so gehört, als der Arzt sich mit ihrer Mutter unterhalten hatte. Sie war noch ganz guter Dinge gewesen, als man ihr Bilder gezeigt hatte, wie ihr Gesicht in einigen Jahren wieder aussehen könnte. Doch dann war die Nachricht gekommen. Die Nachricht, die alles verändert hatte.
Whisper ist heute weggebracht worden. Somit hat das Tier seinen letzten Weg angetreten. Wir werden es Jasmin sanft und schonend erklären. Es wird schon funktionieren. Worte, die durch eine verschlossene Tür gedrungen waren. Wollte wirklich ihr „Therapeut“ ihr erklären, dass es Whisper … Das Tier wäre nicht gut für sie. Sie würde daran festhalten, sich an etwas klammern … Jasmin hatte kaum noch zugehört. In ihrem Kopf wirbelte nur noch ein Satz. Man hatte Whisper weggebracht. Man hatte sie weggebracht. Ihre Whisper. Es war ihr letzter Weg … Jasmin brauchte nicht nachzufragen, um die Bedeutung dieser Worte zu definieren.
Mitten in der Nacht war sie aus dem Krankenhaus getürmt und mit dem Bus zum Stall gefahren. Sie wollte es nicht glauben. Sie konnte und wollte es einfach nicht glauben. Bekleidet mit Hose und Hemdchen – barfuß - war sie im Stall angekommen. Die Tür war verriegelt, aber Jasmin kannte den Trick, wie sie sich auch ohne Schlüssel öffnen ließ. Ihre Hände waren nach wie vor verbunden, schmerzten bei jedem Handgriff. Egal, sie musste es wissen.
Ohne Licht einzuschalten, war sie durch die Stallgasse gerannt, über die Schubkarre geflogen, hatte sich, ohne es zu merken, die angeheilte Sehne erneut gerissen und war zu Whispers Box gestürzt. Leer! Nein, das konnte nicht sein. Man brauchte die Box, hatte das Pferd nur woanders untergebracht. Jasmin hatte in der Nacht den gesamten Stall nach der alten Stute durchsucht. Sie war über die Koppel gelaufen, hatte verweint immer und immer wieder ihren Namen gerufen, gehofft, dass irgendwann das erlösende Wiehern kommen würde. Aber es kam nicht. Whisper war weg. In ihrer Verzweiflung hatte sie den Pfleger geweckt und immer wieder Whispers Namen gerufen. Der Pfleger öffnete ihr stockbesoffen die Tür. „De – er M –mm- Metzger ha – ha- hat sie“, hatte er gelallt und Jasmin die Tür vor ihrer Nase wieder zugeschlagen. Sie war gerannt, erst durch den Stall, dann durch die Koppeln, in den Wald und war ziellos umhergeirrt, hatte verzweifelt geweint und geschluchzt. Über ihre linke Hand lief Blut, sie zerschnitt sich die Füße an spitzen Steinen und dem Geäst des Waldes, merkte aber auch das nicht. Whisper, man hatte sie fortgebracht, man hatte sie getötet, man hatte ihr die Stute weggenommen, ohne sie zu fragen. Whisper, wo bist du? Whisper! Komm her zu mir, komm. Ich habe eine Karotte für dich, ich …
Als die Tasche zu Boden knallte, kehrte Jasmin in die Realität zurück. Sie hatte Tränen in den Augen. Jedes Mal wenn sie an Whisper dachte, war sie so real, als würde sie nur einen Galoppsprung von ihr entfernt stehen und auf sie warten. Aber Whisper gab es nicht mehr, wie es so vieles nicht mehr gab.
Jasmin hob ihre Tasche auf und warf sie aufs Bett. Dabei öffnete sie sie und einige Zeichnungen kamen zum Vorschein, die sie alle sorgsam in eine Klarsichthülle gesteckt hatte.
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