Whisper (German Edition)
Jasmin schritt auf das Bett zu, kniete nieder und zog die Zeichnung aus der Tasche, nahm einige aus der Hülle. Fast jede zeigte ein Pferd. Immer dasselbe Pferd. Ein goldenes Pferd mit weißer Mähne und weißem Schweif, vorne zweimal weiß gefesselt und hinten zweimal weiß gestiefelt. Im Gesicht trug es eine zarte Blesse, die über den Augen beim Wirbel ihren Ausgang hatte, sich über den Nasenrücken zog und über die rechte Nüster verjüngte. Whisper kam nicht mehr zurück. Sie war tot. Aber dieses Pferd war nicht Whisper. Es war ein anderes. Eines, welches ihr ständig in den Träumen erschien, mit ihr spielte, mit ihr um die Wette lief, sie liebkoste und wieder verschwand. Jasmin kannte kein Pferd, welches so aussah. Und trotzdem war es in ihren Träumen so echt. Dort hatte sie keine Angst. Dort nannte sie niemand Frankensteins Monster, dort liebte das Pferd sie. Jede Nacht, wenn sie unter die Decke schlüpfte, dachte sie an dieses Pferd, welches ihr wieder im Traum begegnen würde und ihr das Gefühl gab, in einer anderen Welt zu sein. Der nächste Morgen würde früh genug kommen. Früh genug.
Vorsichtig nahm sie die Bilder und legte sie neben das Bett auf das Schränkchen. So hatte sie ihr Traumpferd immer nah bei sich und konnte es ansehen, wenn ihr danach war. Und wenn sie große Lust hatte, dann malte sie ein neues Bild, aber mit demselben Pferd.
Mit einem zarten Lächeln im Gesicht begann Jasmin ihren Koffer auszupacken. Ihre Kleidung war einfach. Sie hatte viele Jeans, T-Shirts und weite Kapuzensweater mitgenommen. Kapuzen schützten sie davor, angeglotzt zu werden. Sie …
Das Mädchen schrak heftig zusammen, als es plötzlich klopfte. Die Tür knarrte, als sie aufgeschoben wurde.
„Bist du fertig?“
Stefan trat in den Raum. Die gesamte Wäsche war weggeräumt, der Koffer fein säuberlich in eine Ecke gestellt. Jasmin hatte sich einen anderen Sweater angezogen, aber nicht vergessen, die Kapuze über den Kopf zu ziehen. Sie war gerade dabei, ihre Schuhe zu wechseln, als Stefan hereinkam und sich dezent umsah. Er stand im Begriff zu warten, bis sie fertig war, ließ seinen Blick zum Nachtkästchen schweifen, wobei er bei den Zeichnungen hängen blieb. Die Bilder waren so naturgetreu gemalt, dass er zwei davon in Händen hielt, noch ehe es Jasmin verhindern konnte.
„Du magst Pferde?“, fragte Stefan neugierig und warf ihr einen Blick zu. Er rechnete mit vielem, aber nicht damit, dass sie mit funkelnden Augen auf ihn zustürmen, ihm die Zeichnungen aus der Hand reißen, das ganze Paket an sich nehmen und schützend vor ihre Brust halten würde. Sichtbar zornig wandte sie sich ab. Perplex starrte Stefan sie an, verstand ihren Blick auch ohne große Worte.
„Es tut mir leid“, murmelte er nach einiger Zeit, sichtbar geschockt über ihre Reaktion. „Ich wollte dich nicht ärgern. Hier gibt es auch Pferde. Wenn du sie grundsätzlich magst, könntest du mir mit ihnen helfen.“
Wild schüttelte sie den Kopf, sodass ihre Haare hin und her flogen. Es fehlte nur noch, dass sie die Finger gespreizt von sich hielt. Entgeistert sah Stefan sie an. Immerhin hatte er eine Antwort bekommen, auch wenn es nicht jene war, die er gerne gehabt hätte.
„Auch gut“, meinte er unsicher, „dann gehen wir jetzt hinüber ins Haupthaus. Kinskys Frau Susanna und ihr kleiner Sohn Bobby warten bereits. Leider müssen wir auch den anderen wieder gegenübertreten. Ich schätze, es wird ein ganzes Stück Arbeit werden, sie dazu zu bringen, dich zu akzeptieren und schnöde Meldungen zu unterlassen. Kinsky und ich werden dich nach Kräften unterstützen.“
Jasmin war vor ihm zurückgewichen, nahm das Paket ihrer Zeichnungen vorsichtig von ihrem Körper, warf einen liebevollen Blick darauf und legte alles sorgfältig unter ihr Kopfkissen. Stefan war nur ein kurzer Blick auf das Pferd gegönnt gewesen. Jasmin konnte zeichnen. Das Pferd sah hübsch aus und er fragte sich, ob sie es kannte, ob es existierte oder gegeben hatte, und ob sie etwas mit diesem Tier verband. Hatte dieses Pferd in ihrem Leben eine Rolle gespielt? Als man ihre Eltern nach wichtigen Dingen gefragt hatte, wie Hobbys oder geliebte Haustiere, hatten diese verneint. Keine bedeutenden Hobbys, keine Haustiere. Aber Stefan war sich sicher, dass dieses Pferd etwas mit Jasmin zu tun hatte, sonst würde sie es nicht malen. Schon gar nicht so oft. Trotz des allzu kurzen Blickes war ihm wohl aufgefallen, dass es sich bei den Zeichnungen immer um dasselbe
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