Whisper Island (01) - Sturmwarnung
oder gedacht habe, ich habe keine einzige Sekunde aufgehört, dich lieb zu haben, mein Junge.«
Seth dachte über seine Worte nach und was es bedeutete, sich zu irren und Schlussfolgerungen zu ziehen, bevor man überhaupt alle Fakten kannte, aus denen sich eine Erklärung ergeben könnte. »Ich dachte, ich hätte gute Gründe, dich nicht erst zu fragen. Ich brauchte die Sachen, weil jemand anders meine Hilfe brauchte. Es tut mir leid, dass ich dich nicht gefragt habe. Aber ich hatte Angst, dass du Fragen stellst, wenn ich es tue.«
»Na und?«, fragte Ralph. »Was wäre gewesen, wenn ich das getan hätte?«
»Das darfst du nicht, Grandpa. Hierüber nicht. Ich muss einem Freund helfen und du musst mir einfach vertrauen.«
Ralph sah ihm lange in die Augen. Dann nickte er und sagte: »Gut.«
Einen Augenblick blieb er stumm und betrachtete den Knochen, den Seth in der Hand hielt. Er nahm eines von seinen Cowboytaschentüchern heraus und schnäuzte sich lautstark. Dann knüllte er es zusammen und sah Seth wieder an. »Kann ich dich was fragen? Wie viel von dem, was gerade so passiert, hat mit Hayley zu tun?«
Das war eine gute Frage, die Seth nicht einmal sich selbst beantworten konnte, geschweige denn seinem Großvater.
»Wenn ich das wüsste …«, antwortete er.
»Aha«, sagte Ralph und lehnte sich an die Heuballen. Er sah hinauf zum grauen, grimmigen Himmel. Dann stieß er einen langen Seufzer aus und murmelte: »Liebe ist verdammt schwer.«
Seth musste kichern. »Da sagst du was Wahres.«
»Weißt du, was das Schlimmste ist? Die Ungewissheit«, fügte Ralph hinzu.
»Ob der andere die Liebe erwidert?«
»Das ist das eine«, erklärte Ralph. »Aber auch die Tatsache, dass man nie weiß, was als Nächstes geschieht. Wenn ein Mann und eine Frau sich lieben, ist das immer eine große Sache. Das Problem ist nur, dass man diese Sache nicht mit Händen greifen kann.«
»Stimmt. Das kann ich auch nicht«, bestätigte Seth.
»Da bist du nicht der Einzige, glaub mir.« Ralph legte seine Hand um Seths Nacken. Sie war warm, voller Schwielen und vertraut. »Darf ich dir was von meiner Großvater-Weisheit aufdrängen, Seth? Wahrscheinlich ist es bloß jede Menge Unsinn, aber ich will es dir trotzdem nicht vorenthalten.«
Seth war nicht sicher, ob er sich Unsinn anhören wollte, ganz gleich, ob er nun von Ralph stammte oder von jemand anderem. Aber nach Ralphs Entschuldigung war die Stimmung zwischen ihnen wieder etwas entspannter, also forderte er seinen Großvater auf, loszulegen, was dieser sich nicht zweimal sagen ließ. Ralph erklärte, es sei wichtig zu wissen, dass, wenn einer aufhört zu lieben, die Liebe für beide vorbei sei. Und man müsse lernen zu erkennen, wann dieser Zeitpunkt gekommen sei, und dürfe sich nicht dagegen wehren.
»Das soll jetzt nicht heißen, dass Hayley aufgehört hat, dich zu lieben«, ergänzte Ralph rasch. »Aber du musst abwarten und darfst es nicht erzwingen, sonst siehst du Dinge, die in Wirklichkeit gar nicht da sind. Denn ich habe den Eindruck, das tust du bei Hayley. Habe ich recht?«
»Kann sein«, sagte Seth. »Ehrlich gesagt, weiß ich es nicht. Ich bilde mir zwar ein, ich wüsste, warum ich manche Dinge tue, aber manchmal liege ich auch falsch.«
»Und was heißt das?«
»Zum Beispiel, dass ich zur Farm fahre, weil etwas mit ihrem Dad nicht stimmt, und ich glaube, ich weiß, was er hat. Und das will ich ihr und der ganzen Familie sagen. Aber sie glaubt, ich würde aus einem anderen Grund kommen.«
»Und was glaubst du? «
»Ich glaube«, sagte Seth zögernd, »dass sie irgendwo dazwischenliegt.«
»Wer?«
»Die Wahrheit.«
»Aha.«
»Weißt du, sie denkt nämlich, ich sei eifersüchtig, und dass mein ganzes Verhalten nur darauf zurückzuführen ist.«
»Und hat sie recht?«
»Wahrscheinlich. Dabei weiß ich genau, wie schwachsinnig es ist, eifersüchtig zu sein«, sagte Seth. »Es bringt ja nichts. Das sehe ich schon ein. Aber eins steht fest, Grandpa: An meinen Gefühlen kann ich nichts ändern. Sie sind einfach da und ich muss ihnen folgen.«
»Aber das kann leicht aus dem Ruder laufen«, bemerkte Ralph.
»Das weiß ich ja. Sie helfen mir weder dabei, einen Nachhilfelehrer zu finden, noch bei der Musik mit meinem Trio. Sie helfen mir überhaupt nicht.«
»Gut, dass du das einsiehst.« Ralph seufzte erneut. »Ich für meinen Teil versuche immer, den Gefühlen, die nichts bringen, aus dem Weg zu gehen. Und Eifersucht gehört dazu.«
»Bisher hat die
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