Whisper Island (01) - Sturmwarnung
und die ersten von unzähligen Fotos von dem Waisenhaus ausgepackt, in dem Rhonda ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Sieh mal, mit diesem Wagen sind wir in Kampala herumgefahren , erzählte er lachend. Zum Glück hat es nicht viel geregnet, sonst wäre das Ding sicher auseinandergefallen. Sieh mal das Dorf, Hayl. Da sind wir mal zu einem Fußballspiel hingefahren, aber statt Fußball haben wir dann Musik gespielt. Siehst du das Ding? Das ist eine Art afrikanisches Xylofon. Und das ist Warren. Er hat es gelernt, als er zehn Jahre alt war. Ich habe immer schon lieber Saxofon gespielt.
Es machte sie traurig, sich vorzustellen, sie könne seine Stimme hören. Hayley legte ihren Kopf neben Derrics Kopf aufs Kissen. Sie schloss die Augen und flüsterte ihm ins Ohr: »Bitte komm zurück, Derric. Du bist der Einzige, der weiß, warum, und ich kann das nicht allein. Du musst zurückkommen.«
Als sie die Augen wieder aufschlug, waren seine noch immer geschlossen, mit dem schmalen Halbmond aus Weiß am Lidrand. »Wir sind alle im Krankenhaus, Derric. Mom, Dad und ich. Es wird schlimmer, weißt du?«
Nachdem sie sein Zimmer verlassen hatte, ging Hayley zur Radiologie im hinteren Bereich des Krankenhauses. Dort wurde bei ihrem Vater eine Kernspintomografie gemacht und ihre Mutter saß im Wartebereich und hatte eine offene Zeitschrift auf dem Schoß liegen. Aber sie las nicht. Stattdessen saß sie mit gesenktem Kopf und geschlossenen Augen da. Sie betete. Und das tat ihre ganze Familie. Das taten sie schon seit einigen Monaten, aber jeder im Stillen für sich, ohne dass sie es sich gegenseitig eingestanden.
Als Hayley sich setzte, blickte ihre Mutter auf. Ihre Augen waren feucht und Hayley fragte rasch: »Haben sie schon was gesagt?«
»Nein, nein. Ich musste nur an den Leuchtturm in Kalifornien denken. Weißt du noch? Der mit den vielen Stufen.«
Hayley nickte, denn die Geschichte hatte sie schon oft gehört. In ihren Flitterwochen hatte sich ihr Vater auf eine Wette eingelassen und war alle dreihundert Stufen des Turms hinauf- und wieder hinuntergelaufen. Und als er wieder runterkam, war er noch nicht einmal außer Atem gewesen.
»Er ist noch in der Maschine«, berichtete ihre Mom, während sie in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch kramte. »Hörst du das Klopfen? Sie wollten ihm Valium geben, aber du weißt ja, wie dein Vater ist. Er wollte nicht. Und dann hat er gesagt … Er hat gesagt: ›Ich muss mich ja sowieso an geschlossene Räume gewöhnen.‹«
Da strömten ihrer Mutter die Tränen über die Wangen und sie presste sich das Taschentuch auf den Mund und sagte: »Tut mir leid, tut mir leid, Schatz.«
Hayley wusste genau, was er mit geschlossenen Räumen meinte. Sie spürte, wie ihr selbst die Tränen kamen, und stand hastig auf. »Ich geh ein bisschen an die frische Luft«, sagte sie.
Als ihre Mutter nickte, eilte Hayley hinaus.
Auf der Straße war es so kalt, dass ihr der Atem stockte. Bis auf den Parkplatz gab es hier nicht viel und sie sah sich um und blinzelte dabei. Sie bemerkte den wunderschönen Zuckerahornbaum am anderen Ende des Parkplatzes, dessen purpurfarbenes Laub sich vom blauen Himmel abhob. Sie ging darauf zu, um ein wenig Schönheit zu genießen, an einem Tag, an dem ihr sonst alles grau und bedrückend erschien.
Unter dem Baum stand eine Bank und dort setzte sie sich hin. Sie versuchte, nicht an ihren Vater und auch nicht an Derric zu denken. Aber beide beherrschten hartnäckig ihre Gedanken. Wenn sie die Augen schloss, sah sie beide vor sich, und das machte die Sache nur noch schlimmer.
Da setzte sich jemand neben sie auf die Bank. Sie sah auf und erkannte Seths Großvater, der sie anschaute. Ralph Darrow trug einen Hut, der an Indiana Jones erinnerte, und seine Haare waren ausnahmsweise offen. Er sah aus wie eine Mischung zwischen einem Banditen und einem Mann aus den Bergen, aber er lächelte und sagte: »Du hier auf der Bank mit dem roten Laub am Baum … ein wunderschönes Bild. Erlaubst du einem alten Mann, sich neben dich zu setzen?«
»Ja, warum nicht«, antwortete sie.
Eine Weile sprachen sie nicht, bis Ralph wieder ansetzte: »Weißt du, ich mag den Herbst. Viele sagen, er ist der Botschafter des Winters und kündigt die langen, dunklen Tage an. Aber ich finde es wunderbar, zu Hause vor meinem Feuer zu sitzen und so zu tun, als würde ich ein Buch lesen.«
»Genauso sehe ich Ihr Haus im Herbst vor mir«, erwiderte Hayley. »Aber damals haben wir zusammen mit Seth Poker
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