Whisper
Schreckliches gewesen sein. Aber ich tue dir nichts. Ich möchte nur das, was du im Grunde auch willst. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.«
Er kam noch dichter, sein Gesichtsausdruck war jetzt ganz sanft, und als er mit seinem Finger über ihre Wange streichelte, gab Noa auf. Sie ließ ihre Arme sinken, aus ihrer Kehle drang ein Laut, in dem Schluchzen und Lachen gleichzeitig steckte, und dann schloss sie die Augen. David zog sie zu sich heran. Noa spürte seine Hand zwischen ihren Schulterblättern, warm und fest war sie. Ihre Lippen hatten sich noch nicht berührt, als sie das Räuspern hörten.
Jäh fuhr Noa herum.
Hinter einem der glaslosen Fenster stand Gilbert.
»Tut mir Leid, euch zu stören«, sagte er verlegen. »Aber unten wird dein Typ verlangt.« Gilbert sah David an. »Deine Mutter ist hier. Sie sagt, du sollst nach Hause kommen. Deinem Bruder geht es nicht gut.«
Marie wartete im Flur vor der Dachbodentreppe. Ihre Augen waren groß und ihr Gesicht war furchtbar blass.
Gilbert legte David die Hand auf die Schulter. »Bis morgen hoffentlich«, sagte er.
David warf Noa einen kurzen Blick zu, und als er hinter seiner Mutter aus dem Haus ging, war es Noa schwindelig, halb vor Glück und halb vor Angst.
Am Abend stand Kat zum ersten Mal wieder auf. Gilbert hatte eine Suppe gekocht und Kat konnte davon essen, ohne sich erneut zu übergeben. Offensichtlich hatten die Tabletten gewirkt. Sie verbrachten den Abend gemeinsam im Wohnzimmer. Kat las in ihren Drehbüchern, Gilbert in einem neuen Buch. Es hieß
»Krafttiere – Power für Körper, Geist und Seele«, u nd auf dem Klappentext hatte Noa gelesen, man solle sich nicht wundern, wenn man sich beim Lesen des Buches beim Schnurren ertappe –dann wäre die Katze in einem erwacht.
Kats Katzen hatten sich auf einem Kissen am Boden aneinander gekuschelt. In seltener Eintracht lagen sie da und schliefen.
Noa blätterte in ihren Fotomagazinen, aber bei der Sache war sie nicht. Ständig spukte der Film in ihrem Kopf herum. Der Film aus der Leica, der jetzt in der Dunkelkammer lag, bereit entwickelt zu werden. Ach verflixt, hätte sie doch bloß die Konzentrate mit aus Berlin hierher gebracht. Dann hätte sie den Film noch heute entwickeln können. Jetzt würde sie bis morgen warten müssen – und hoffen, dass es in der Stadt einen Fotoladen gab. Gleich morgen. Gleich morgen früh frage ich David, ob er mit mir hinfährt, dachte Noa. Dann dachte sie an das Spiel, das sie mit David hatte spielen wollen. Das Geisterspiel, wie sie es inzwischen für sich nannte. Und sie dachte an den Kuss, zu dem es nicht gekommen war.
Um kurz nach zehn ging Noa ins Bett. Bald darauf gingen auch Kat und Gilbert schlafen.
Es war in dieser Nacht, dass Noa zum ersten Mal die Schritte auf dem Dachboden hörte.
Leise, suchende Schritte wie in diesem alten Film mit Ingrid Bergmann, in dem Kats Lieblingsschauspielerin eine Frau spielte, die von ihrem eigenen Mann in den Wahnsinn getrieben wurde.
Die Schritte mischten sich in Noas Traum, dunkel und vage wie Gespenster. Aber es waren keine Gespenster. Es war auch kein Traum.
DREIZEHN
Ich glaube, dass die Angst, die man hat, wenn man an einem Abgrund steht, in Wahrheit vielmehr eine Sehnsucht ist. Eine Sehnsucht, sich fallen zu lassen –oder die Arme auszubreiten und zu fliegen.
Eliza, 25. Juli 1975
N oa musste all ihren Mut zusammennehmen, um aus dem Bett zu steigen. Der Holzboden unter ihren nackten Füßen fühlte sich seltsam unwirklich an und das fahle, durch die geöffneten Fenster hineinscheinende Mondlicht malte so geisterhafte Schatten an die Wände, dass sich die Härchen in Noas Nacken aufstellten. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, ihr Mund war wie ausgetrocknet. Die Schritte waren jetzt unmittelbar über ihrem Kopf. Zwei dumpfe Töne, tump, tump … dann stoppten sie wieder. Gingen weiter, tump, tump, tump … Eliza. Das war Noas erster Gedanke gewesen. Ein Geist, der mit ihnen über Buchstaben kommunizierte, ein Geist, dessen Duft es vielleicht war, den sie immer wieder wahrnahm, den auch David so eindeutig gerochen hatte – konnte ein solcher Geist nicht auch Geräusche machen? Ruhelos am Tatort des Mordes hin und her laufen, bis er endlich Frieden fand und davonflog, in welche Welt auch immer?
In Gilberts Büchern standen solche Dinge, Noa hatte schon darin gestöbert, hatte sogar überlegt Gilbert darauf anzusprechen, es aber wieder verworfen. Gilbert würde hysterisch werden und damit wäre
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