Whisper
Auf Noas Frage runzelte er irritiert die Stirn. »Was sollten wir denn mitten in der Nacht da oben tun? Verstecken spielen? – Verflixt!« Gilbert ließ das Messer fallen und steckte sich seinen Daumen in den Mund. »Hab mich geschnitten!«
Unwillkürlich musste Noa an gestern denken, an ihren eigenen Finger – zwischen Davids Lippen. »Ist es schlimm?«
»Nein, geht schon. Ich hol mir ein Pflaster. Sei du so gut und wecke Kat, ja? In einer Viertelstunde gibt es Frühstück.«
»Mach ich.« Noa lief nach oben – und dann raus, zur Kneipe. Vor dem Frühstück wollte sie noch schnell zu David. Ihm von den Schritten auf dem Boden erzählen, und vor allem: ihn bitten mit ihr ins Städtchen zu fahren, um die Konzentrate zu besorgen.
Es war Gustaf, der Noa nach dem zweiten Klingeln die Tür zur Kneipe öffnete. An einem der hinteren Tische saß ein Mann mit roten Haaren und breiten Schultern, der gerade die letzten Züge eines Bierglases leerte. Thomas Kord. Der Vater des Feuermelders und der Dorfschlachter, wie Marie ihn genannt hatte. Angewidert verzog Noa das Gesicht. Es war noch nicht einmal Mittag und der bloße Gedanke daran, dass jemand um diese Zeit Bier trank, erfüllte sie mit Ekel.
»Dann wäre das mit der Schlachtung also geklärt«, hörte sie Thomas Kord sagen, während Gustaf noch immer in der Tür stand. Er war frisch rasiert und sein schlaffes Gesicht schimmerte so rosig, als hätte er gerade eine eiskalte Dusche genommen. Er sah Noa aus seinen murmelrunden Kinderaugen an und lächelte freundlich. Plötzlich wurde ihr klar, dass sie den Wirt nicht einmal gegrüßt hatte.
Sie wollte gerade ansetzen, als Gustaf ihr das Wort abnahm. »David ist nicht da«, sagte er entschuldigend. »Er lässt ausrichten, dass er am Nachmittag zum Arbeiten kommt. Er hat heute Vormittag noch etwas zu erledigen. Soll ich ihm etwas von dir bestellen?«
»Danke«, entgegnete Noa. Enttäuschung machte sich in ihr breit. »Würden Sie ihm sagen, dass ich … auf ihn warte?« Gustaf nickte und Noa machte sich auf den Heimweg. Hinter den Wolken war ganz unerwartet die Sonne hervorgekommen, sodass Gilbert den Gartentisch unter dem Walnussbaum gedeckt hatte. Nach dem Frühstück wollte Kat in die Stadt und Noa würde mit ihr fahren. Wenn David erst am Nachmittag kam, würde sie mit dem Entwickeln des Filmes eben alleine anfangen – noch länger zu warten, das würde sie nicht aushalten.
Das Städtchen war wirklich hübsch; klein und übersichtlich, mit einem historischen Stadtkern. Im Unterschied zum Dorf drängten sich keine Bausünden zwischen die im alten Stil erhaltenen Häuser. Sie waren in freundlichen Farben gestrichen und wirkten mit ihren grünen Fensterläden und den blühenden Geranien vor den Fenstern wie herausgeputzt für einen sonnigen Tag. Mitten in der Häuserzeile stand eine katholische Pfarrkirche, vor der Noa eine Weile stehen blieb, um der Orgelmusik zu lauschen. Aus dem Portal trat eine ältere Frau mit schlohweißem Haar. Esther. Mit einem höflichen Kopfnicken erwiderte Davids so genannte Großmutter Noas Gruß und schritt dann langsam, auf ihren Gehstock gestützt, die Treppen hinunter.
Kat war bereits auf den Platz vor dem Brunnen gegangen. Es war Markt, viele Leute waren unterwegs, es roch nach süßem Obst, nach Fisch und nach gebackenem Brot. An einem Stand hingen wie in den Max-und-Moritz-büchern gerupfte Hühner an langen Stricken.
»Da könnte mir glatt wieder schlecht werden«, sagte Kat und hakte sich bei Noa ein. »Worauf hast du Hunger? Soll ich uns heute Abend einen schönen Salat machen, was meinst du?«
»Salat klingt gut«, sagte Noa.
Sie kauften frischen Kopfsalat, Rucola, Gurken, Tomaten und Eier und anschließend verbrachte Kat noch eine gute halbe Stunde in einem Stoffladen. Die Verkäuferin hatte sie erkannt und Kat hatte sich bereitwillig in ein langes Gespräch über ihren letzten Spielfilm verwickeln lassen, der auch hier im Kino gelaufen war.
Noa sah ungeduldig auf die Uhr. Bald war Mittag, die Läden würden schließen und sie brauchte noch die Konzentrate für die Dunkelkammer – nur deshalb war sie schließlich mitgekommen. Sie ließ Kat in dem Stoffladen zurück und ging zwei Häuser weiter in das Fotogeschäft, wo sie entgegen ihrer Befürchtungen alles fand, was sie zum Entwickeln des Films brauchte. Als Noa gut gelaunt aus dem Laden trat, erwartete Kat sie schon vor dem Schaufenster.
»Wollen wir noch einen Cappuccino trinken?«
Ohne Noas Antwort abzuwarten,
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