Whisper
Meinst du, die Batterien funktionieren noch für den Blitz?«
»Nein.« Noas Knie zitterten, als sie aufstand. »Nein, das glaube ich nicht. Ich gehe noch mal nach unten und hole welche. Warte hier, ja?«
Als Noa wiederkam – außer Batterien hatte sie auch ein Pflaster und etwas zum Desinfizieren gefunden –, wollte David die Kamera nicht aus der Hand geben. Er wechselte die Batterien aus und richtete dann die Kamera auf Noa. Erschrocken wich sie zurück. »Nein, nicht. Ich will nicht, dass du mich fotografierst, ich … ich mag das nicht.«
Sie wollte nach der Kamera greifen, aber David hatte schon auf den Auslöser gedrückt. Der Blitz war so hell, dass Noa ihre Augen wie im Reflex erschrocken aufriss.
David lachte. »Na, auf das Bild bin ich mindestens genauso gespannt wie auf den Rest. Du hast ein Gesicht gemacht, als hätte ich eine Pistole in der Hand.«
Noa musste lächeln. »So ähnlich ist es ja auch«, murmelte sie. »Hast du mal auf die Ausdrücke geachtet, die man fürs Fotografieren benutzt? Man richtet die Kamera auf jemanden. Man drückt ab oder man schießt – das sind im Grunde dieselben Begriffe wie bei einer Pistole.«
»Na dann«, sagte David und legte Noa die Kamera in den Schoß. »Du bist die Fotografin. Auf wen willst du schießen, damit wir den Film voll kriegen? Auf deine Mutter – oder lieber auf meine?«
Noa sah David an. Sie lächelte. »Ich habe eigentlich eher an dich gedacht«, sagte sie.
Vor der Kamera, das wusste Noa, entwickelte sogar der selbstbewussteste Mensch eine sonderbare Scheu – eine Mischung aus Abwehr und Angst. Die Macht lag bei dem, der hinter der Kamera war, denn im Unterschied zum Modell verbarg der Fotograf sein Gesicht. Vor der Kamera war man schutzlos, ausgeliefert, man stand da wie vor einer Frage, auf die man keine Antwort wusste. Wie sollte man aussehen, welches Gesicht wurde von einem erwartet – ein schönes Gesicht? War man denn schön? Fühlte man sich so, wie man aussehen sollte?
Eine Art, diese Unsicherheit zu überspielen, war das Lachen. Hinter einem Lachen konnte man sich verstecken und Noa kannte natürlich diese billigen Tricks, die viele Fotografen anwendeten. Dieses lächerliche Cheese , das sie früher in der Schule immer hatten sagen sollen, wenn der Schulfotograf Bilder von der Klasse geschossen hatte. Noa war fast immer die Einzige gewesen, die dieser Aufforderung nicht gefolgt war. Während die anderen ihre Grimassen aufsetzten, hatte sie meist ängstlich in die Kamera gestarrt.
David war anders. Er zeigte keine Spur von Scheu. Er setzte sich auch nicht in Pose, wie Kat es tat, und er setzte kein Gesicht auf.
Er stand einfach nur da und sah in die Kamera, als wäre sie gar nicht vorhanden. Schräg über ihm war die Dachluke, sodass die Sonnenstrahlen die eine Hälfte seines Gesichtes in ein vages Licht tauchten, während die andere Gesichtshälfte im Dunkeln lag, was Noa plötzlich wie ein Spiegel von Davids Wesen erschien. Gegensätze, die sich anzogen – die sie, Noa anzogen. Auf seinem T-shirt waren Blutspuren von Noas Wunde und auf seinen Lippen lag wieder dieses seltsame Lächeln. Als David sich ganz leicht auf die Unterlippe biss, spürte Noa, wie ihre Hände zitterten.
»Ich möchte dich küssen«, sagte David. »Sieht man das?«
Noa antwortete nicht. Sie drückte auf den Auslöser, wieder und wieder, bis es nicht mehr ging. Es kostete Anstrengung, die Kamera abzulegen und David anzuschauen.
»Fertig. Der Film ist voll.«
»Und?« David machte einen Schritt auf Noa zu. Sein Gesicht löste sich aus dem Licht, es lag jetzt ganz im Dunklen, aber sein Lächeln wurde breiter und um seine grünen Augen bildeten sich leichte Fältchen. »Bekomme ich nun einen Kuss? Als Belohnung für die Fotos?«
Noa stand da, mit Füßen schwer wie Blei. Sie dachte Nein und fühlte Ja . Mit einem Kuss hatte es auch bei Heiko angefangen, aber David war nicht Heiko. David war anders – oder nicht? »Wovor hast du solche Angst?«, fragte er plötzlich leise.
»Das geht dich nichts an.«
Noa verschränkte die Arme vor der Brust. Sie wusste, dass ihre Stimme schroff und abweisend klang, und sie wünschte, sie hätte etwas daran ändern können.
Aber David ließ sich nicht abweisen. »Na dann«, sagte er lächelnd, »bin ich im Unterschied zu dir ja gleich zwei Geheimnissen auf der Spur.«
Noa schluckte und plötzlich wurde Davids Gesicht ganz ernst. »Ich weiß nicht, was dir passiert ist, Noa. So wie du dich verhältst, muss es etwas
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