Whisper
war etwas darin eingewickelt.
Noas Herz schlug schneller, als sie den Stoff zur Seite schlug. Eine kleine Truhe lag darin. Sie war aus einfachem, abgesplittertem Holz, längst nicht so kostbar wie all die anderen Dinge hier, aber jemand hatte sie in kunstvoller Feinarbeit bemalt. Winzige Vögel schwebten so plastisch auf dem nachtblauen Untergrund, dass es fast aussah, als würden sie sich jeden Moment davon abheben und losfliegen. Sie hatten dieselbe Farbe wie die Chaiselongue, ein dunkles Rot. In dem Schloss der Truhe steckte kein Schlüssel, und als Noa versuchte, in einer sinnlos heftigen Handbewegung den Deckel aufzuzerren, rutschte sie mit dem Finger ab und riss sich einen Splitter unter die Haut. Es fing sofort an, zu bluten.
»Mist! Ich bin nicht geimpft«, stieß Noa ängstlich hervor. Sie wusste, wie leicht man sich ohne Tetanusimpfung eine Blutvergiftung zuziehen konnte, wenn Dreck in eine offene Wunde kam.
»Warte«, David hatte sich hinter Noa gekniet. Er nahm ihren Finger in die Hand, drückte ihn mit Daumen und Zeigefinger zusammen, um an den Splitter zu kommen, aber alles, was hervorquoll, war Blut. Ehe Noa ihren Finger zurückziehen konnte, hatte ihn David in den Mund genommen. Seine Lippen schlossen sich um ihre Haut und Noa fühlte, wie seine warme Zunge die Wunde berührte. Wieder wurde ihr schwindelig. Sie zuckte zurück, aber David ließ ihren Finger nicht aus seiner Hand. Noch immer rann Blut aus der Wunde, es tropfte auf Davids Jeans, aber er beachtete es gar nicht. Er hielt ihren Finger ins Licht und kräuselte die Stirn.
»Halt still. Der Splitter ist ganz schön groß, aber er kuckt raus, ich kann ihn fühlen. Ich glaub, den krieg ich so.«
Noch einmal nahm David Noas Finger in den Mund, umschloss ihn mit seinen Lippen und saugte daran, bis der Splitter freilag. Es war wirklich ein großer Splitter, selbst im dämmrigen Licht des Bodens konnte man ihn erkennen. David bekam ihn mit seinen Fingernägeln zu fassen und zog ihn mit einem kurzen Ruck heraus.
»Da ist er. Habt ihr irgendwo was zum Desinfizieren?«
»Ich glaub nicht«, murmelte Noa. Sie presste jetzt ihren eigenen Daumen auf die Wunde und hielt den Kopf gesenkt, aus Angst, David in die Augen zu sehen.
»Dann nimm das hier.« David hielt Noa ein Tempotaschentuch hin. »Es wird schon nichts passiert sein. Hauptsache, der Splitter ist draußen.«
Während Noa das Taschentuch um ihren Finger wickelte, stand David auf und holte ein Messer aus dem Schuhkarton, der auf dem Esstisch stand. Angespannt beobachtete Noa, wie er sich an der Truhe zu schaffen machte. Erst versuchte er mit der Messerspitze im Schloss herumzustochern, aber das war vergeblich, weil die Spitze viel zu dick für das zierliche Schloss war. Schließlich schob David das Messer unter den Deckel und stemmte es mit aller Kraft dagegen. »Mist … dieses verflixte Ding … ich … ich hab’s!«
Krachend brach der Deckel auf und David atmete aus. »So. Dann wollen wir mal sehen. Bist du bereit?« Davids Augen funkelten vor Aufregung und Noa nickte ihm zu.
Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte. Alles hätte in dieser Truhe sein können, alles Mögliche, aber mit dem, was jetzt hinter dem aufgeklappten Deckel zum Vorschein kam, hatte sie nicht gerechnet.
Es war eine Kamera. Eine alte Leica, weitaus kostbarer als die Kamera, die Noa von Kat geschenkt bekommen hatte.
Und darin steckte noch ein Film.
ZWÖLF
Es ist so still hier oben. Ich denke an all die Dinge, die man auf einem Dachboden tun kann. Ich schaue Robert an und fühle, dass auch er an Dinge denkt. Ich will, dass er mich liebt. Ich liebe ihn nicht, aber ich will, dass er mich liebt.
Eliza, 23. Juli 1975
S ollen wir ihn rausholen?«
David wollte die Kamera schon aufklappen, aber Noa hielt seine Hand fest. Ihre Wunde unter dem Tempotaschentuch pochte noch immer. »Nicht, warte!«, sagte sie hastig. »Wenn wir den Film jetzt rausnehmen, wird er belichtet. Ich …« Sie zögerte. »Ich kann ihn später in der Dunkelkammer rausnehmen. Dort kann ich ihn dann auch entwickeln.« Sie nahm David die Kamera aus der Hand. Schwer war sie und hatte noch einen Transporthebel, um den Film weiterzutransportieren. Das Bildzählwerk stand auf der Ziffer 28. »Der Film ist noch nicht voll«, sagte Noa. »Acht Bilder fehlen noch.«
»Na dann …« David strich sich die blonden Haare aus dem Gesicht und nahm die Kamera wieder an sich. »Dann machen wir ihn doch voll. ›Wennschon, dennschon‹, würde ich sagen.
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