Whisper
steuerte Kat auf ein kleines Eiscafé zu, das links neben dem Marktplatz lag. »Hier war ich neulich schon, die machen den Cappuccino wirklich mit geschäumter Milch anstatt mit Sahne, das hätte ich gar nicht erwartet. He, kuck mal, da ist ja …«
Kat brach ab, und als Noa dem Blick ihrer Mutter folgte, sah sie ihn auch.
David. Er saß an einem der Tische, aber nicht allein. Ein blondes Mädchen saß an seiner Seite und David – er war Noa und Kat mit dem Rücken zugewandt – hatte seine Hand auf ihren Arm gelegt. Das Mädchen trug ein enges Sommerkleid, gelb mit feinen grünen Streifen. Lange, leicht gewellte Haare umspielten ihr zartes Gesicht und das Mädchen beugte sich so nah zu David vor, dass es aussah, als ob seine Lippen ihre Wange berührten.
»Scheiße«, sagte Kat. »Das war wohl keine so gute Idee.«
Noa sagte nichts. Sie drehte sich einfach um und ging. In ihrem Magen breitete sich eine schmerzhafte Leere aus. Warum? Warum, verdammt noch mal, hatte sie diesem Mistkerl vertraut? »Gilbert hat mir erzählt, dass ihr gestern auf dem Speicher wart«, sagte Kat, als sie das Auto anließ. »Ich meine, vielleicht ist das ja auch seine Ex – und er macht mit ihr Schluss, weil er sich in dich verliebt hat.«
»Kat«, entgegnete Noa müde. »Bitte hör auf. Lass uns von was anderem sprechen, ja?«
»Welches Thema hättest du denn gern? Das Wetter? Die neue Wandfarbe für dein Zimmer? Oder könnten wir vielleicht ausnahmsweise mal über deine Gefühle sprechen? Mensch Noa, behandele mich doch nicht immer wie einen Feind. Ich merke doch, dass du David magst. Ich hab mich so für dich gefreut, als Gilbert mir sagte, dass er euch gestern auf dem Dachboden überrascht hat. Ich fand das so romantisch! Und seit diesem Heiko habe ich dich nie wieder mit einem Jungen gesehen. Das ist inzwischen fast zwei Jahre her und so richtig gelaufen ist da doch auch nichts, oder? Meinst du nicht, du bist langsam alt genug, um mit einem Jungen …«
»Um mit einem Jungen was?« Noas Stimme war so schrill, dass Kat für eine Sekunde die Kontrolle über das Lenkrad verlor. Der Landrover schlitterte gefährlich zur Seite, aber Noa bemerkte es gar nicht. »Um mit einem Jungen Sex zu haben? Ist es das, was du hören willst? Glaubst du, nur weil du wie wild durch die Gegend …«
Noa brach ab. Sie drückte ihre Arme gegen die Brust und starrte aus dem Fenster. Ein paar hundert Meter vor ihnen trieb ein Mann seine Gänseherde vor sich her, Kat musste das Tempo drosseln, weil die Tiere – es waren an die hundert – die Hälfte der Straße beanspruchten, auf der sie buchstäblich im Gänsemarsch voranschritten, laut schnatternd ihrem schweigsamem Herren voran.
»Wild durch die Gegend, so siehst du das also.« Kat trommelte mit ihren Fingern auf das Lenkrad, ihre Stimme klang zutiefst gekränkt.
»Ich weiß nicht, wie man das sonst sehen sollte«, erwiderte Noa leise. Sie musste an Svenja und Nadine denken, ihre Freundinnen, die jetzt im Hotel von Svenjas Tante auf Griechenland Urlaub machten. Keine ihrer Mütter ahnte auch nur im Geringsten, mit wie vielen Jungs ihre Töchter schon geschlafen hatten. »Die würden uns die Hölle heiß machen«, hatte Svenja zu Noa gesagt. »Da kannst du mit deiner Kat echt froh sein, die würde dir wahrscheinlich noch ein Dauerabo auf Kondome spendieren.«
Ja, dachte Noa. Das würde Kat zweifellos tun. Trotzdem hatte auch sie keine Ahnung – nicht die leiseste.
»Scheiße, ich habe Spaß am Leben«, gab Kat jetzt trotzig zur Antwort. »Was ist daran falsch?«
»Nichts«, zischte Noa und krampfte ihre Finger zu Fäusten. »Gar nichts. Es ist nur so, dass ich früher auch gerne mal Spaß gehabt hätte. Spaß dabei, mit dir im Bett zu frühstücken. Oder mit dir einen Film anzusehen, ein Spiel zu spielen, in den Zoo zu gehen … irgendwas, was Kinder mit ihren Eltern tun, wenn Wochenende ist. Weißt du, dass dein blödes Wer-stört-kriegt-Ärger-Schild so ziemlich das Erste war, an dem ich als Kind das Lesen geübt habe, wenn ich sonntagmittags mit knurrendem Magen vor deiner Schlafzimmertür stand? Verdammt noch mal Kat, du kennst mich doch gar nicht, du hast doch keine Ahnung, wer ich bin. Ist dir klar, dass du so ziemlich jedes Mal, an dem ich in den vergangenen Jahren mit dir über meine Gefühle sprechen wollte, nicht da warst? Oder überfordert warst? Oder Spaß mit irgendeinem Typen hattest, von dem ich meist noch nicht mal den Vornamen wusste? In der schlimmsten Nacht meines Lebens
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