Whisper
Menschen zu gewinnen war in vielen Fällen schon schwer genug, aber wie um Himmels willen gewann man das Vertrauen eines Geistes?
»Was ist mit Robert?«, versuchte sie es zögernd. »Könnte er der Mörder gewesen sein?«
WARUM FRAGT IHR IHN NICHT SELBST
David stöhnte auf. »Scheiße, das hat doch keinen Zweck. Wir haben ein Opfer, das seinen Mörder nicht preisgibt, und einen Geist, der denjenigen nicht vertraut, denen er erschienen ist. Wer weiß …« David lachte bitter. »Vielleicht gab es ja gar keinen Mörder. Vielleicht hat sich Eliza ja wirklich selbst umgebracht, so wie es in der Zeitung steht.«
Noa warf David einen bösen Blick zu. Eliza würde sich wohl kaum selbst erwürgt und den Dachboden herabgestoßen haben. Nein, Noa glaubte ihr, sie verstand sogar ihre Furcht davor, dass ihr Vertrauen missbraucht werden könnte, und für einen Moment fühlte sie sich Eliza fast näher als David.
»Du hast mir schließlich auch nicht anvertraut, dass du nachts auf unserem Speicher herumgegeistert bist«, sagte sie angriffslustig. »Das ist Einbruch, falls dir das nicht klar sein sollte.«
David zuckte zusammen. Er zog die Finger vom Glas und für einen Moment hatte Noa Angst, er würde aufstehen und gehen, so wie beim letzten Mal. Aber David blieb sitzen. Spöttisch sah er Noa an. »Ich hätte es dir heute Nachmittag sofort erzählt, wenn du mir nicht zur Begrüßung eine gescheuert hättest.«
Noa senkte den Kopf. Warum, dachte sie. Warum habe ich dieses unglaubliche Talent, mir selbst immer alles zu verderben? Sie kniff die Lippen zusammen, als könnte sie ihre Bemerkung dadurch ungeschehen machen, aber das funktionierte natürlich nicht.
David legte seine Finger wieder auf das Glas. »Weiter«, sagte er leise. »Lass uns weitermachen, sonst verschwindet sie noch ganz. Sprich du mit ihr, ich glaub, ich hab mich nicht mehr lange im Griff.«
Noa holte noch einmal tief Luft und versuchte es mit einer neuen Frage. »Das Bild von Robert. Die Bilder auf der Leica, hast du sie gemacht?«
JA
»Und das letzte Foto, die junge Frau in dem silbernen Kimono. Bist … warst du das?«
JA
»Hat Robert dich fotografiert?«
JA
»Frag sie, was mit dem Schlüssel war«, raunte David Noa jetzt wieder versöhnlicher zu. »Dem Schlüssel zur Truhe.«
Eliza antwortete, ehe Noa die Frage formulieren konnte.
ICH TRUG IHN UM DEN HALS ALS ICH ERMORDET WURDE
Noa und David warfen sich einen Blick zu.
»Bist du …« Wieder rang Noa nach Luft, als sei nicht genug im Zimmer vorhanden. »Bist du an dem Tag gestorben, als Robert das Bild von dir gemacht hat?«
ES WÄRE EIN GUTER TAG ZUM STERBEN GEWESEN
Noa knetete ihre Lippen. Die Hände wurden ihr feucht und David sah immer verstockter aus.
»In der Zeitung stand, du wärst in Düsseldorf verschwunden. Wie bist du ins Dorf gekommen?«
HEIMLICH
»Und was wolltest du hier?«
DIE NÄCHSTE FRAGE BITTE
Davids Finger verkrampften sich, als könne er sich nur noch mühsam beherrschen das Glas nicht an die Wand zu werfen. Noa war verzweifelt. Ihre Fragen führten zu nichts – und sie hatte das Gefühl, als ob Eliza genau das beabsichtigte, als ob sie ihnen sagen wollte: bis hierhin und weiter nicht. Und all das in dem Wissen, dass sie Noa und David an der Angel hatte. Ja, ob sie wollten oder nicht, sie steckten drin in dieser rätselhaften dunklen Geschichte.
»Bitte«, machte Noa einen letzten Versuch. »Bitte, gib uns einen Hinweis. Irgendetwas, an das wir anknüpfen können.«
Das Glas blieb an seinem Fleck, eine kleine Ewigkeit lang. Irgendwo draußen ging die Sonne unter, das Stück Himmel hinter dem Wohnzimmerfenster war ein tiefes Rot.
Das Glas glitt lautlos zu den Buchstaben.
FINDET MEIN JUWEL
UND DANN SEHT OB IHR MIR HELFEN WOLLT
Das war alles. Mehr gab Eliza nicht preis. David und Noa versuchten es mehrere Male, mit mehreren Fragen. Aber Eliza schwieg.
Es war dunkel, als David das Haus verließ. Er warf Noa einen kurzen Blick zu, genau wie gestern, als Marie ihn holen gekommen war, weil es seinem Bruder nicht gut ging. Aber das Funkeln in seinen Augen war weg.
»Wir sehen uns.« Das war alles, was David sagte, bevor er in der Dunkelheit verschwand.
Bald darauf kam Kat. Noa saß auf dem Sessel, als ihre Mutter ins Wohnzimmer rauschte, die Haare zerzaust, die Wangen glühend. In der Hand hielt sie eine kleine, um einen Holzrahmen gespannte Leinwand. Darauf war ein Bild, irgendwas Abstraktes mit schwarzem, fast plastischem Untergrund und dunkelroten
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