Whisper
Noas Stimme verhallte auf der jetzt leeren Straße. »Hitchcock, wo bist du?«
Sie wollte sich gerade für die linke Richtung entscheiden, als sie das Maunzen hörte. Es kam von rechts, und als Noa um die Ecke bog, sah sie die Katze davontrotten, die Straße hinauf, bis sie in einem Feldweg verschwand. Noa rannte hinterher, ihre Füße hallten auf dem leeren Pflaster. Der Feldweg, der von der Straße abbog, führte an einem Friedhof vorbei. Es war ein kleiner Friedhof, lediglich ein paar dutzend Gräber, gut gepflegt, mit Blumen, Grabmälern und hellem Kies dazwischen. Auf einer weißen Statue, einem Engel mit einer weißen Schale in den bleichen Händen, saß ein Vogel. Mit geneigtem Kopf blickte er Noa an, bis er, von ihren Schritten aufgescheucht, im immer heller werdenden Himmel verschwand. Die Katze hatte noch immer einen Vorsprung, Noa folgte ihr, immer wieder leise Hitchocks Namen rufend, aber der Kater war nicht zu sehen.
Ein paar hundert Meter weiter führte der Feldweg zurück zur Dorfstraße. Kein Mensch war zu sehen, das Dorf lag in tiefem Schlaf und die Katze war in einem der Hinterhöfe verschwunden.
Noa hielt sich die Seiten. Die Brust tat ihr weh vom Laufen. Langsam ging sie die Dorfstraße zurück, sah in alle Winkel, bis ein leises Kichern sie innehalten ließ.
Sie stand wieder an ihrem Ausgangspunkt, dem Haus des Bauern. Das Kichern war von hier gekommen, von der Alten, seiner verrückten Schwiegermutter. Sie saß vor ihrem Haus auf dem Klappstuhl – und um ihre krummen Beine strich Hitchcock. Für einen Moment war Noa ihr eigener Kater fremd. Wie ein Hexenkater sah er plötzlich aus und das von Falten zerfurchte Gesicht der Alten wirkte so unheimlich, dass Noa am liebsten auf der Stelle umgekehrt wäre.
Aber da winkte die Alte sie heran. Noa war, als zöge sie dabei an einem unsichtbaren Faden, der sie beide verband. Hitchcock hatte sich der Alten zu Füßen gelegt. Er schnurrte laut, wie es sonst überhaupt nicht seine Art war.
Die Alte war ganz in Schwarz gekleidet, auf ihren gichtigen Händen waren schuppige Altersflecken und ihre stechenden Vogelaugen bohrten Löcher in Noas Gesicht.
»Ich hab ihn gesehen«, krächzte sie, ehe Noa ein Wort hervorpressen konnte. »Hab ihn gesehen, den schwarzen Prinzen. Er kam in jener Nacht. Er kam, um sich zu holen, was er für das Seine hielt. Aber andere folgten ihm, und als er zurückkam, hatte er zerstört, der dumme, dumme Prinz.«
Noa war viel zu verängstigt, um Fragen zu stellen. Sie wollte sich nach Hitchcock bücken, wollte ihn greifen und mit ihm weglaufen, aber die Alte hielt sie fest mit ihrem Blick. Ihre Stimme war jetzt kaum mehr als ein heiseres Flüstern.
»Pass auf dich auf, Mädchen.«
Als Noa zurück zum Haus kam, den widerstrebenden Hitchcock mit aller Kraft an ihre Brust gepresst, ging die Sonne auf. Der Tag war angebrochen. Aber Noa wollte ihn nicht sehen.
Sie kroch in ihr Bett, rollte sich zu einer kleinen Kugel zusammen und kniff die Augen zu. Als sie endlich der Schlaf übermannte, war er schwer und klebrig.
SECHZEHN
Marie liebt Robert. Sie hat es mir heute anvertraut. Ich habe gelächelt und geschwiegen. Ich habe gedacht, es wäre schön, unschuldig zu sein. Dumm und unschuldig, so wie Marie. Ich sehe das Leuchten in ihren Augen, aber ich sehe auch, dass es verschwinden wird. Es wird schwächer und schwächer werden, wie ein Feuer, das erst zu Glut und dann zu Asche wird.
Eliza, 1. August 1975
K at gehörte zu der Sorte Menschen, die eine Krankheit als persönliche Beleidigung empfinden. Mitleid für die Wehwehchen anderer war ihr ebenso fremd wie Selbstmitleid für das eigene Unwohlsein. Eine Krankheit war für Kat wenn überhaupt dazu da, mit Hilfe von härtesten Mitteln schnellstmöglich aus dem Weg geräumt zu werden. Gilberts Kräutertees, seine homöopathischen Tropfen und seine sich aus Heilkundebüchern angeeigneten Reikimethoden hatte sie daher ebenso vehement abgelehnt wie seine ständigen Ermahnungen, sich nach dem verdorbenen Magen erst einmal vorsichtig zu ernähren. Zu der Suppe gestern Abend hatte sie ein Glas Rotwein getrunken und zum Frühstück – Noa sah es an den abgegessenen Tellern auf dem Tisch unter dem Walnussbaum – hatte Kat Rosinenbrot mit Leberwurst gegessen. Jetzt stand sie mit hochgekrempeltenÄrmeln im Komposthaufen, einem etwa vier Quadratmeter großen, eingemauerten Beet neben dem Klohäuschen. Sie trug knallrote Gummistiefel, eine abgeschnittene Latzhose und darunter ein schmal
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