Whisper
VW-Busses schoss. Es waren Bruchteile von Sekunden, aber Noa sah alles ganz scharf und die Zeit war kein Fluss mehr, sondern eine rasende, abgehackte Abfolge von Bildern, jede Nanosekunde eine festgefrorene Einheit. Der VW-Bus kam näher – näher – näher, wie ein durch die Kamera angezoomtes Objekt. Davids Gesicht, es strahlte hell im Scheinwerferlicht, ein erstaunter Ausdruck, der Mund heruntergeklappt, die Augen offen, ganz weit offen. Der Aufprall, Noas Körper flog nach vorn, dann wieder zurück, der Gurt schnitt ihr in die Brust. Es krachte, klirrte, Glas flog durch die Luft, Splitter, unzählige Splitter, wie schön sie waren, wie unterschiedlich, geradezu perfekt in ihren Formationen, ein Kristallregen. In Noas Mund ein metallischer Geschmack, in ihrem rechten Handgelenk ein stechender Schmerz. Ein Schrei aus Kats Mund, ein Keuchen vom Beifahrersitz.
Dann Blut, überall Blut.
Davids Gesicht über Noa, blutüberströmt, irgendwo aus der Nähe und doch wie aus weiter Ferne Musik. Jim Carroll, der von den Sternen sang.
Aber da wurde es schon schwarz vor Noas Augen.
FÜNFUNDZWANZIG
Es gibt diese Geschichten von den blinden
Weisen, die um einen Elefanten stehen.
Der erste betastet den Rüssel und spricht:
»Ein Elefant ist wie ein langer Arm.« Der
zweite ertastet das Ohr und behauptet:
»Ein Elefant ist wie ein großer Fächer.«
Der dritte berührt den Schwanz und
meint: »Der Elefant ist wie ein kleiner
Strick mit borstigem Ende.«
Genauso ist es mit der Beschaffenheit
meiner Geschichte. Robert, Dumbo, Marie,
sie alle kennen einen Teil der Wahrheit,
den sie für das Ganze halten.
Eliza, 20. August 1975
N oa war als Kind einmal im Krankenhaus gewesen, wegen einer Mandeloperation. Sie konnte sich noch daran erinnern, dass es jede Menge Eiscreme gegeben hatte, Kat hatte sie mitgebracht, Noas Lieblingssorte, Vanilleeis von Mövenpick. Becherweise hatte Noa das Zeug in sich hineingeschaufelt und das dicke Mädchen neben ihr, das am Blinddarm operiert und zu Schonkost verdonnert worden war, hatte geheult, weil sie auch Eis essen wollte, nicht diesen scheußlichen Krankenhausfraß.
Jetzt lag Noa in einem Vierbettzimmer, zusammen mit zwei hüftoperierten, älteren Damen und einer jungen Frau, die einen Verband um den Kopf trug. Sie schien nicht viel älter als Noa zu sein und lag im Bett gegenüber, gleich neben dem Fenster. Abwesend, ja beinahe apathisch sah sie aus, als stünde sie unter starken Beruhigungsmitteln, aber mitten in der Nacht begann sie plötzlich zu schreien, schrill und hoch wie ein Tier in Todesangst, bis die Pflegerin ins Zimmer kam, sich zu der jungen Frau aufs Bett setzte und beruhigend auf sie einredete. Dann gab sie ihr eine Spritze, und nachdem die Pflegerin den Raum wieder verlassen hatte, begann die Frau zu schluchzen, haltlos, ohne Unterlass und ungeachtet der anderen Patientinnen, die sich beschwerten, weil sie ihre Ruhe haben wollten. Noa wäre gerne zu ihr gegangen, aber sie brachte es nicht fertig. Sie lag in ihrem Bett und starrte aus dem Fenster. Mondlicht sickerte durch die Zweige einer Birke und warf einen feinen, milchigen Strahl auf den kalten Linoleumboden des Krankenzimmers. Die Milchstraße, dachte Noa und an diesem Wort hielt sie sich fest, sagte es lautlos, immer wieder und wieder, bis es keinen Sinn mehr ergab. Aber das sollte es ja auch nicht, es sollte keinen Sinn ergeben, es sollte nur die Bilder fern halten, die in ihrem Kopf lauerten, geduckt, bereit zum Sprung, zur Attacke, Hirnattacke, alle Mann auf Noa, eins, zwei, drei und los .
Davids blutüberströmtes Gesicht, Kat eingepfercht zwischen Sitz und Lenkrad, Kats ausgerenkter Arm, Kats Hand auf der Suche nach dem Handy, Gilbert, stumm, reglos, den Kopf vornüber gebeugt, als schliefe er, die Sanitäter, der Krankenwagen, Polizeisirenen. Fragen, viel zu laute Fragen, die Worte wie Hammerschläge, die Fahrt zum Krankenhaus, Gilbert, immer noch reglos auf der Liege, Kat mit dem abgebrochenen Zahn, ihr panisches Gesicht, wo bringen Sie Gilbert hin, was ist mit ihm, wird er …
Sie hatten es nicht sagen können. Gilberts Beine waren gebrochen, beide Beine, er hatte Prellungen am Schulterbereich, sein Gesicht war zerschnitten von Splittern, der Kiefer war ausgerenkt. Aber das war nicht das Schlimmste gewesen. Das Schlimmste war der Blutdruckabfall, deswegen hatten sie ihn auf die Intensivstation bringen müssen. Verdacht auf Gehirnblutung. Das war die Information, mit der Noa dalag, die ganze, lange
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