Whisper
auch darunter, die Adresse lautete Markgrafenstraße 4 und von einer älteren Dame erfuhr Noa, dass es bis dorthin gar nicht weit war. Die Straße lag in einem Viertel namens Oberkassel, gleich auf der anderen Rheinseite, einem der schönsten Viertel der Stadt, wie die alte Dame Noa vorschwärmte. Oben auf der Brücke gab es eine Straßenbahn, die direkt dorthin fuhr.
Als Noa aus der Bahn stieg, erfasste sie ein eigenartiges Gefühl. Zum ersten Mal, seit ihr Eliza auf diese unheimliche Weise erschienen war, wurde ihr klar, dass sie mit dem Mädchen etwas gemeinsam hatte. Sie beide kamen aus einer Großstadt und sie beide hatte es in das Dorf verschlagen, in dasselbe Dorf, dasselbe Haus.
Hatte auch Eliza sich dort verliebt? Hatte sie Robert geliebt, so wie Noa David liebte? Hatte Robert ihre Liebe erwidert? Erwiderte David ihre, Noas Liebe?
Und was für ein Verhältnis hatte Eliza zu ihren Eltern gehabt? Den Worten des Bauern nach zu urteilen, ein tragisches. Noa musste lächeln, als sie an den ironischen Tonfall dachte, in dem Hallscheit gesagt hatte, er sei vom Land, aber was er sehe, das sehe er. Wie musste das bloß sein, von dem eigenen Vater nicht einmal wahrgenommen zu werden? Wie se manchmal neben ihm stand, als wär se gar nicht da. Als wäre sie auch damals schon ein Geist gewesen, dachte Noa, zumindest in den Augen ihres Vaters. Was war mit der Mutter? Hallscheit hatte gesagt, sie wäre immer im Haus geblieben. Trauerte sie um Jonathan, Elizas Bruder? In der Zeitung hatte gestanden, er sei bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen, und plötzlich fiel Noa seine Widmung wieder ein, seine Worte in dem Buch Die Brü-der Löwenherz . Jonathan hatte geschrieben, dass er immer für sie da sein würde. Jetzt waren sie tot, alle beide. Und Noa war in der Stadt, in der Eliza gelebt hatte.
Die Markgrafenstraße war leicht zu finden, Noa brauchte nur zweimal fragen, dann war sie da. Eine schmale, ebenfalls kopfsteingepflasterte Seitenstraße mit vornehmen, repräsentativen Einfamilienhäusern, viele noch im Jugendstil, in verschiedenen Farben gestrichen, Lila, Hellgrün, Gelb.
Das Haus Nummer 4 war rot.
Ein dunkles, zurückhaltendes Rot, nur die Eingangstür, aus schwerem, glänzend poliertem Holz war dunkelblau gestrichen. In ihrer Mitte hing ein alter Türklopfer, ein Löwenkopf aus Messing.
Als Noa auf das Haus zutrat, ging die Haustür auf, so abrupt, dass Noa zurückstolperte. Ein Mann stand vor ihr, ein älterer Herr mit grauem, fast silbrigem Haar. Es war zurückgekämmt, seine kantigen Gesichtszüge hatten etwas Scharfes und seine Augen standen weit auseinander, genau wie die Augen von Eliza auf dem Aktbild, das Robert von ihr gemalt hatte.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte der Mann freundlich irritiert. Noa wusste nicht, was sie erwartet hatte. Sicher nicht, Elizas Vater so plötzlich und vor allem so nah gegenüberzustehen. Er trug eine Anzughose, ein helles Polohemd, darüber einen dunkelgrünen Pulli mit V-Ausschnitt, Marke teures Krokodil. Er roch nach Aftershave und wirkte frisch rasiert, aber an einer Stelle hatte er sich geschnitten, das Blut dort war noch feucht. Ein glänzender, plastischer Tropfen. Noa suchte in dem Gesicht des Mannes nach einem Ausdruck, einem Gefühl vielleicht, aber da war nur diese freundliche Distanz und eine unbestimmte Form von Kälte.
Noa schüttelte den Kopf, murmelte eine Entschuldigung und floh zurück in die Altstadt, froh jetzt um die Masse der Menschen, froh auch um Kat und Gilbert, die in der Eingangshalle des Museums schon auf sie warteten.
Das Interview war gut gelaufen, Kat hatte glänzende Laune, und nachdem sie die Ausstellung, in der tatsächlich zwei Werke von Robert vertreten waren, besichtigt hatten, lud Kat sie bei einem überteuerten Japaner zum Essen ein. Zweimal kamen Leute an ihren Tisch, einmal ein Ehepaar, einmal eine junge Frau. Sie baten Kat um ein Autogramm und musterten Noa und Gilbert mit neugierigen Seitenblicken. Beim Dessert fragte Kat etwas verschämt, ob es für Noa und Gilbert in Ordnung wäre, doch schon heute zurückzufahren, sie habe solche Sehnsucht nach Robert.
Noa sah Davids VW-Bus schon von weitem. Sie erkannte ihn im Dunkeln, ja vielleicht fühlte sie ihn sogar. Er bog gerade von der Zufahrtstraße des Dorfes auf die Landstraße, als Kat, die wie immer zu schnell fuhr, kreischte, dass die Bremsen nicht funktionierten, wie wahnsinnig an der Handbremse hantierte und im nächsten Moment mit voller Wucht in die Seite des
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