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Whisper

Whisper

Titel: Whisper Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arena
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Wohnzimmer, ein kleiner Raum gleich neben der Küche. Ein altes grünbraunes Sofa, ein Couchtisch mit Spitzendeckchen und kitschigen Glasfiguren, geblümte Tapeten, ein Bücherschrank aus dunkler Eiche. Von Krümels Randale war nichts mehr zu bemerken, alles war peinlich geordnet, die Bücher im Schrank, die Glasfiguren auf dem Tisch, die Kissen auf dem Sofa mit ihrem Knick in der Mitte. Der Raum sah aus, als würde er nie betreten. Er roch auch so. Nach Möbelpolitur und nach Einsamkeit.
    Noa hatte einen Blick hineingeworfen, bevor sie die Treppen nach oben ging. Im Flur vor Krümels und Maries Zimmer stand David. Sein Gesicht war starr vor Schreck, seine Stimme war kaum mehr ein Flüstern.
    »Sieh dir das an«, brachte er hervor. »Komm mit und sieh dir das an.« Er warf einen angsterfüllten Blick über Noas Schulter, als befürchte er, jemand könnte hinter ihr nach oben kommen, dann riss er sie am Arm und zog sie in das kleine Zimmer, das Marie und Krümel teilten. Er zerrte sie zum Bett seines Bruders, der unter der Bettdecke lag und schnarchte. Speichel floss ihm aus dem Mundwinkel. David schlug die Decke zurück, vorsichtig.
    Krümel hielt etwas im Arm.
    Es war ein Buchschuber, ein dunkelbrauner, abgegriffener Karton, auf dem zwei matt schimmernde, betende Hände abgebildet waren. Maries Worte fielen Noa ein, dass Krümel unten in der Stube das Bücherregal umgeworfen und Marie alles wieder in Ordnung gebracht hatte. Ob Davids Mutter entgangen war, dass Krümel eins der Bücher mitgenommen hatte? Aber warum versetzte das Buch David in eine solche Aufregung? Noa runzelte irritiert die Stirn. Was sollte das?
    Krümel schlief so tief, dass David seinen Arm hochheben konnte. In dem Schuber steckte ein Buch, aber es war nicht die Bibel.
    Es war ein in blutrote Seide eingefasstes Tagebuch. David zog es heraus, während sein Blick immer wieder zur Tür huschte. Noa erstarrte.
    Es war das Buch auf Roberts Bild in der Mühle. Eliza hatte es in den Händen gehalten. Ihre eine Hand hatte die Vorderseite verdeckt, doch jetzt war das Buch ganz zu sehen. Es hatte keinen Titel, aber auf der Vorderseite saß ein winziger, rot schimmernder Stein. Ein Strassstein, in der Farbe eines Rubins. Elizas Juwel.
    Sie hatten es gefunden.

SECHSUNDZWANZIG
    Das ist der Plan, das ist meine Geschichte.
Jetzt muss sie nur noch geschehen.
    Eliza, 21. August 1975, 17 Uhr
    I ch hasse, hasse, hasse ihn! Er nimmt mich mit in dieses Haus wie etwas, das ins Gepäck gehört, nicht, weil es schön ist, sondern, weil es mitmuss, ein notwendiges Übel, wie ein sperriger Regenschirm. Notwendig bin ich nicht, aber ein Übel werde ich sein, darauf kann er Gift nehmen.
    Das war der erste Eintrag.
    Der erste Eintrag in Elizas Juwel, ihrem Tagebuch. Er war vom 3. Juli 1975. Sie hatte mit roter Tinte geschrieben, die filigrane, leicht geschwungene Handschrift schimmerte, als sei sie noch ganz frisch. Auch der Duft war frisch, der Duft nach Elizas Parfüm. Die Seiten rochen nach ihm, süß und schwer.
    Sie saßen auf dem Boden, Noa und David, direkt unter der Dachluke in Davids Zimmer. Die Türe war verriegelt. Sie sa-ßen nebeneinander, das Buch lag zwischen ihnen, jeder hielt einen Teil in der Hand und in seiner anderen Hand hielt David eine Kerze. Sie hatten warten müssen, bis jetzt, bis alle schliefen.
    Noa hielt die rechte Buchseite, ihre Hand zitterte, als sie umblätterte, und als Davids Hand die Seite entgegennahm, war sie kalt.
    Die Einträge waren kurz, manche lasen sich wie ein Gedicht, andere wie Momentaufnahmen oder Bilder, aber sie hatten eine Reihenfolge, fügten sich zu einem Ganzen, einer Geschichte. Und wie in einem echten Buch, auf dessen Ausgang man hinfiebert, juckte es Noa in den Fingern, vorzublättern, auf die letzte Seite, auf das Ende.
    Aber sie tat es nicht. Gemeinsam mit David sog sie Elizas Geschichte ein.
    Wie Eliza an einem ihrer ersten Abende neben ihrem Vater in der Kneipe saß und sich wünschte, jemand würde sich an ihrem Gesicht schneiden.
    Wie sie die Brüder Löwenherz auf dem Nachttisch der Mutter fand und sich an Jonathan, ihrem toten Bruder, festhalten wollte. Wie sie Robert kennen lernte, den Jungen mit dem Muttermal und den dunklen Augen. Er half beim Renovieren und Elizas Vater versuchte vergeblich seine Zuneigung zu gewinnen. Er sucht Ersatz für Jonathan, als wäre ich nicht vorhanden. Dafür hasse ich ihn einmal mehr!
    Aber auch Eliza beschloss Robert zu mögen. Den Satz las Noa mehrere Male. Ich glaube, ich

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