Whisper
Nacht.
Nur Gilberts Handy war unversehrt geblieben, Kat hatte es aus der Tasche seiner Jeanshose gezogen, mit ihrem ausgerenkten Arm. Jetzt lag sie in einem Einzelzimmer für Privatpatienten, außer dem abgebrochenen Zahn und dem Arm war sie unversehrt, stand aber unter Schock und würde noch ein paar Tage bleiben müssen, während Noa am Morgen entlassen werden würde – mit einem verstauchten Handgelenk und einer Schnittwunde auf der Stirn. Ein Splitter, ein einziger Splitter hatte sie getroffen, genau auf die Stelle zwischen ihren Augenbrauen.
Auch David war in guter Verfassung, so hatte es der Krankenpfleger ausgedrückt, es wäre ein Wunder, dass niemand ums Leben gekommen sei, selbst den VW-Bus würde man wieder hinbekommen, das habe die Polizei gesagt, nur Kats Wagen nicht, der hatte einen Totalschaden und stand jetzt in der Polizeiwerkstatt, wo die Ursache für den Unfall festgestellt werden würde.
Kat schlief, als Noa am nächsten Morgen in ihr Zimmer kam und Gilbert – ja, Gilbert war außer Gefahr. Er hatte keine Gehirnblutung und lag nicht mehr auf der Intensivstation, sondern in einem Dreibettzimmer mit zwei älteren Herren, die auf ihren Betten saßen und Schach spielten. Gilbert war wach. Er hob einen Finger und zwinkerte Noa mit einem blutverkrusteten Auge unter seinem frischen Kopfverband zu. Er flüsterte etwas von einem Engel, mehr verstand Noa nicht, sie presste sich die Hand auf den Mund, um das Schluchzen zurückzudrängen, das ihr in der Kehle saß, und lief nach draußen in die Eingangshalle, wo David auf sie wartete. Er war genäht worden, das viele Blut war aus einem tiefen Schnitt über dem Wangenknochen gekommen, ansonsten war ihm nichts passiert.
Wie zwei Kinder fassten sich die beiden an den Händen.
Marie kam, um sie zu holen, und als sie draußen vor dem Krankenhaus aus dem Auto stieg, trug sie ihr blondes Haar offen über einem weißen Kleid und sah aus wie Gilberts geflüsterter Engel.
Krümel lag in seinem Zimmer und schlief. Marie hatte den Arzt gerufen und ihm eine Spritze geben lassen, weil er die ganze Nacht nach seinem Bruder geschrien hatte, bis ihm die Stimme wegbrach. »Außerdem hat er in der Stube randaliert«, sagte sie mit belegter Stimme. »Das ganze Bücherregal hat er umgeworfen, aber zum Glück konnte ich alles wieder in Ordnung bringen, bevor Esther und Gustaf aus dem Garten kamen. Um Gustaf mache ich mir keine Sorgen, aber Esther, du weißt ja, wie sie ist. Unordnung bringt sie völlig aus der Fassung. Mein Gott, David, was rede ich da eigentlich. Ich … ich bin selbst völlig durcheinander. Du hättest tot sein können. Du musst einen Engel gehabt haben, einen Schutzengel, ich bin so dankbar. So dankbar.«
Marie legte die Hand auf Davids Bein, aber David erwiderte nichts. Er saß nur stumm da und starrte aus dem Fenster, bis sie vor der Kneipe hielten.
Esther stand schon an der Tür. Sie war leichenblass, stürzte auf David zu, warf sich ihm in die Arme, weinte und presste immer wieder »mein Junge« hervor. »Mein lieber, lieber, guter Junge.«
Gustaf stand in der Küche und kochte Suppe. Er versuchte zu lächeln, aber sein Gesicht war wie eine Maske, die roten Flecken krochen ihm bis zu den Ohren hoch, den flach anliegenden Ohren, die ihm Elizas Vater vor dreißig Jahren bezahlt hatte.
»Leute von der Zeitung waren hier«, sagte Esther und ihr Ton klang so vorwurfsvoll, als wäre Noa der Urheber des Ganzen.
»Zweimal schon, wir haben sie weggeschickt, wohl hoffentlich mit eurem Einverständnis. Es wird nicht im Sinne deiner Mutter sein, dass man sie öffentlich für diesen Unfall anklagt.«
»Es war nicht Kats Schuld«, rief Noa empört über diese Äußerung aus. »Die Bremsen haben nicht funktioniert. Es lag nicht an Kat.«
Esther nickte, kniff die schmalen Lippen zusammen und ließ den Blick nicht von David, der jetzt aus der Küche ging, um nach seinem Bruder zu sehen.
Noa würde hier bleiben, bis Kat aus dem Krankenhaus kam, das sei eine Selbstverständlichkeit, beeilte sich Gustaf zu sagen und Noa wusste nicht, ob sie dankbar oder erschrocken über dieses Angebot sein sollte. Aber sie würde es natürlich annehmen. Es war undenkbar, die Nacht allein im Haus zu verbringen. Wir müssen Robert Bescheid sagen, dachte Noa, aber sie war so müde, so furchtbar müde. Marie bot ihr an sich in Davids Bett zu legen, David würde diese Nacht in ihrem Bett bei Krümel schlafen und sie auf dem Sofa in der guten Stube.
Die gute Stube war das
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