White Horse
Reue beschlieÃen könnte, wenn es sie nicht
gäbe. Ich wollte, ich könnte das Rad zurückdrehen, an einen Ort, in eine Zeit
vor dem Untergang. Ein Schluchzen schnürt mir die Kehle zusammen, weil ich mich
nach etwas sehne, das so tot, so kalt, so endgültig verloren ist, dass ich mir
ebenso gut ein Raketenschiff zum Mars wünschen könnte.
Das Gebimmel von Glocken reiÃt mich schlieÃlich aus meinen
Gedanken. Ich werfe Irini einen fragenden Blick zu, falls die Glocken ein
Zeichen sind, dass ich den Verstand verloren habe und für den Rest meines
Lebens dazu verurteilt bin, als Bucklige in einem Turm zu verbringen, der nicht
auf dieser Erde existiert.
»Ziegen«, sagt sie. »Vielleicht Schafe.«
Schafe. Sie tauchen unvermittelt von irgendwo hinter der
StraÃenbiegung auf, quellen zwischen den Autos und Motorrädern hervor, umringen
uns und begutachten unsere Habe neugierig, ehe sie entlang der rissigen
Teerdecke weiterziehen, auf der Suche nach grünen Weiden. Ihr Gebimmel verliert
sich in der Ferne.
Mit jedem Schritt nimmt meine Erschöpfung zu. Auch Irini scheint am
Ende ihrer Kräfte zu sein. Ich sehe mich in ihr wie in einem Spiegel immer
elender und schwächer werden. Wäre das hier ein Videospiel, dann hätten wir
unsere Extraleben alle verbraucht.
»Ich schaffe das«, sage ich. »Ich muss das schaffen. Bleib hier
sitzen, bis ich dir Hilfe schicke.«
»Nein. Zusammen.«
Ich nehme ihre Hand in meine, und wir marschieren los. Die Fremden
kommen in die Stadt.
Hinter der nächsten Kurve taucht ein Dorf auf, das so aussieht
wie alle Dörfer entlang der StraÃe. Dieser Ort hat nichts Besonderes an sich.
Tavernen säumen die Gassen. Angelschnüre hängen noch im Freien, damit die
Fischer ihren Tagesfang zum Verkauf anbieten können. Die Wellen lecken an den
Strand wie eine durstige Katze. Am Ufer zwei Stühle, dazwischen ein kleiner
Tisch und zwei Gläser, gefüllt mit einer braunen, schaumgekrönten Flüssigkeit.
Ein Mann und eine Frau in Bermudas und Tanktops.
Ein Urlaubs-Schnappschuss. Der Weltuntergang geschah anderswo.
Irini und ich humpeln ins Bild und stören die Szene. Zwei
vergammelte, halb tote Gestalten mit einer Eselin im Schlepptau. Der rote Fleck
oberhalb Irinis Bauch hat sich ausgebreitet. Sie braucht Hilfe, so schnell wie
möglich.
Ich bleibe mitten auf der StraÃe stehen. »Hallo?«
Sie drehen sich um. Echo. »Hallo?«
Amerikaner.
Die Frau hat Ãhnlichkeit mit einem guten Lehnstuhl: weich, robust,
die Haut tiefbraun gebrannt. Ihr Begleiter ist hochgewachsen und hager. Er
sieht mich mit Augen an, die ich von einem anderen Mann kenne.
»Sie müssen ⦠Nicks Eltern sein«, sage ich. Und dann heule ich los.
Sie starren mich an, wechseln einen Blick, wenden sich wieder mir
zu. Dann spricht der Mann.
»Die Welt ist ein Irrenhaus geworden. Wir stellen schon lange keine
Fragen mehr, sondern versuchen den Wahnsinn zu akzeptieren, so gut es geht, um
überleben zu können. Aber woher zum Teufel kennen Sie unseren Sohn?«
Die Frau versetzt ihm lachend einen leichten Klaps, als gutmütigen
Tadel an seiner Wortwahl. Ein ganzer Dialog im Zeitraum eines Herzschlags, wie
ihn nur Paare führen können, die lange und eng verbunden sind.
»WeiÃt du das wirklich nicht?«, fragt sie. »Das ist Nicks Zoe. Wer
sonst könnte sie sein?« Sie wartet nicht einmal auf meine Bestätigung. »Sie
sind Zoe.«
All die Worte, die ich vorbereitet hatte, lösen sich auf und
versinken in einem Brei unausgesprochener Gedanken. Ich kann nur stumm nicken.
Sie streicht mir mit einer schwieligen, rauen Hand über das Gesicht,
und doch ist ihre Berührung so zart und sanft wie die einer Mutter.
Ihr Blick fällt auf das Bündel in meinen Armen. »Wer ist das?« Sie
sieht mich forschend an.
»Nicks Tochter.«
»O mein Gott!« Dann drückt sie uns beide fest an sich. Der Mann
folgt ihrem Beispiel.
»Ich kann es nicht glauben«, sagt er. »Wie ist das möglich? Wie hast
du uns gefunden?« Aber auch er weint jetzt, und ich schlieÃe daraus, dass er
mir doch glaubt, selbst wenn er nicht die richtigen Worte findet.
Ich schaue Irini an. Tränen rollen über ihre Narben.
»Du hast die Hoffnung gebracht«, sagt sie.
Aber das stimmt nicht. Die Botschaft, die ich für die beiden habe,
ist Segen und Fluch zugleich. Ich weiÃ, wie das enden
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