Whitley Strieber
Einwegspiegel und prallte mit einem dumpfen Knall ab. Seine unfreiwillige Nacktheit verleitete ihn zu körperlicher Ge- walt.
Miriam schüttelte den Kopf. »Aber, aber.«
»Er steht splitternackt vor einer bekleideten Menschenmenge«, sagte Sarah. »Ich wäre auch wütend.«
Miriam schmunzelte. »Zeig ihm den Club, Leo. Lass ihn ein bisschen mit dir spielen. Aber wage es ja nicht, ihn kommen zu lassen, falls du mit ihm schläfst. Versprochen?«
Leo ging um den Schreibtisch herum und küsste Miriam auf die Wange. Sarah konnte es nicht mit ansehen. Sie starrte auf die Ma- gnum vor ihr, nahm die Waffe und richtete sie auf Leo. »Vergiss nicht«, sagte sie, »er ist gefährlich.«
Ein weiterer Stuhl flog an das Fenster.
»Richte es so ein, dass du mit ihm in einer halben Stunde an meiner Tür bist«, rief Miriam der hinauseilenden Leo nach. Dann wandte sie sich zu Sarah. »Richte nie wieder eine Waffe auf sie.«
»Sie ist so frech zu dir.«
»Sie ist, wie sie ist. Akzeptiere das.«
»Du willst sie statt mich!«
Miriam trat dicht an Sarah heran und nahm ihr Gesicht in die Hände. »Reiß dich zusammen«, sagte sie und drückte fester zu, presste die Kiefer- und Wangenknochen so fest zusammen, dass Sarah beinahe die Augen aus dem Kopf fielen. »Wirst du das tun?«
Sarah nickte. Sie konnte nicht sprechen.
Miriam konnte mit bloßen Händen einen Menschenschädel zerquet-
schen. Sie drückte noch fester. »Bist du dir sicher?«
Sarah nickte erneut. Schleim begann ihr aus der Nase zu laufen. Sie stampfte und scharrte mit den Füßen. Ihre Wangen brannten. »Keine Eifersucht«, sagte Miriam.
Sarah warf sich tränenüberströmt in Miriams Arme. »Bitte, verlass mich nicht!«
Diesen verzweifelten Ausruf hatte Miriam bisher von jedem gehört, und jedes Mal ging es ihr zu Herzen. Ihre Spielgefährten waren tragi- sche Geschöpfe. Sie schämte sich für ihre Selbstsucht. Aber sie ge- noss nunmal ihre Menschen, und dies war letztlich, was für sie am meisten zählte. Hüter brachten den Menschen Leid. Dies war nun mal das Wesen der Natur.
Sie küsste Sarah. »Besser?«
»Es tut mir Leid, Miri. Du bedeutest mir eben unendlich viel. Ich kann ohne dich nicht leben.«
»Meine Liebe, ich habe eine sehr wichtige Aufgabe für dich.« Sie zeigte ihr einen Messingschlüssel. »Dies ist der Schlüssel zu seinem Hotelzimmer.« Sie warf ihn auf den Schreibtisch und nannte Sarah die Adresse. »Fahr mit Bill oder jemand anderem dorthin. Geh in sein Zim- mer und nimm alle seine persönlichen Sachen mit. Und wenn du ein kleines, schwarzes Buch findest, ein sehr altes Buch –«
»Er hat ein Buch der Namen?«
»Wenn wir Glück haben.«
Sarah war schockiert. »Was sollte es ihm nützen?«
»Sie können Prime lesen. Zumindest teilweise.«
Sarah war fassungslos. Sie hatte in einem einzigen Wortgebilde ein- hundertachtzig verschiedene Schriftsymbole gezählt. Es war die mit Abstand komplexeste Schriftsprache, die es auf der Welt gab. Wer sollte imstande sein, einen so komplizierten Code zu knacken? »Bist du dir sicher?«
»Ich glaube, sie haben Hilfe von Kryptographen der NSA bekom- men.«
Sarah spürte, wie Kälte sie durchströmte, als hätte man ihr ein Mes- ser aus Eis ins Herz gestoßen. »Dein Name steht in dem Buch. Deine Besitztümer. O Miri!«
Die Hüter befanden sich in entsetzlicher Gefahr, wenn diese Leute tatsächlich Prime lesen konnten. »Woher hat er das Buch? Wie konnte er es in die Hände bekommen?«
»Wenn du es findest, bringst du es auf direktem Weg hierher.«
»Und wenn ich es nicht finde?«
»Dann werden wir ihn dazu bringen, uns zu verraten, wo es ist, nicht wahr, Liebes?«
Sarah brachte ein Lächeln zustande. Manchmal quälte Miriam ihre Opfer auf so fürchterliche Weise, dass diese schrien, bis die Kräfte sie verließen. Eigentlich hasste Sarah Gewalt. Aber in diesem Fall würde es ihr gefallen, wenn dieser Mann vor Schmerzen wimmerte. »Wir werden es aus ihm herausbekommen«, sagte sie. Sie schlang die Arme um Miri. »Danke, dass du mir wieder vertraust.«
»Geh jetzt, Kind. Fliege wie der Wind.«
Paul stieg in die Hose und bekam sie irgendwie zu. »Der Besitzer muss spindeldürr sein«, sagte er. Es gelang ihm auch, in die Schuhe zu schlüpfen, die aus so weichem Leder waren, dass er eine Gänse- haut bekam. Konnte es sein, dass diese Leute Geschenke von Vampi- ren erhielten? Paris hatte ihn gelehrt, dass Vampire viel öfter mit Men- schen verkehrten, als er angenommen hatte. Daraus schloss
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