Whitley Strieber
Hoffnung, dass Miri wirklich schwanger war. Denn wenn es stimmte und wenn der Fötus gesund war, würde sich Miriams größter Herzenswunsch doch noch erfüllen. Aber noch sah Sarah in Paul eine lebensgefährliche Bedrohung. »Was ist mit deinem Hunger?«, fragte Miriam Leo.
»Ich habe etwas Blut abbekommen«, sagte sie. Aber Leos leerer Ge- sichtausdruck verriet ihnen, dass es nicht genug gewesen war. Sarah brachte Miriam nach oben in ihr Privatgemach. Sie schaltete die Videoüberwachung ein, damit sie den Patienten fortwährend im Auge behalten konnten.
Miriam legte sich auf die kleine Couch, auf der sie oft las und arbei- tete. Sarah hockte sich vor ihr auf den Boden. »Bitte, verzeih mir, Miri.«
Miriam betrachtete sie. »Ich verzeihe dir, Kind«, sagte sie. »Aber du musst mir mit ihm helfen.«
»Miri, er hasst dich. Er ist eine Tötungsmaschine.«
»Er hat ein Herz, Sarah, ein großes Herz. Ich möchte versuchen, zu seinem Herzen durchzudringen.«
»Miri, nur Gott weiß, was geschehen wird, wenn er erwacht.« »Ich möchte, dass du und Leo mir helft.«
»Natürlich werden wir dir helfen. Das ist doch selbstverständlich.« Miriam stand auf, ging durch das Zimmer und nahm das enkausti- sche Gemälde ihres geliebten Eumenes von der Wand. »Ich habe mein Glück in einer anderen Welt verloren.«
»Wir können dich auch glücklich machen.«
Sie lächelte traurig. »Ich bin die Letzte meiner Art – der letzte Hüter.« »Es gibt noch andere.«
Miriam sah sie an. »Du meinst die, die in finsteren Höhlen hausen?
Das sind keine wahren Hüter – wir Hüter haben über die Menschheit geherrscht.« Sie betrachtete das Portrait des gutaussehenden jungen Mannes in der weißen Toga. »Ich bin eine Verlorene im Mahlstrom der Zeit.« Sie hängte das Gemälde wieder an die Wand und ging zu Sarah zurück. »Aber ich trage ein Baby in mir. Ich habe Hoffnung.« Sarah hatte keine Ahnung, was Miriam in sich trug, und sie war sich nicht sicher, ob sie es wirklich herausfinden wollte. Wenn ihr so ge- schundenes Herz einen weiteren Schlag hinnehmen musste, wäre es sogar möglich, dass Miriam sich ihren verbliebenen Artgenossen in der Finsternis anschließen und wie ein Tier leben würde, das nur noch ei- nes herbeisehnte – den Tod.
»Ich möchte einen Schwangerschaftstest machen.«
Sarah versuchte, Zeit zu gewinnen. »Sobald es Paul besser geht.« »Nein«, sagte Miriam. »Sofort.«
»Im Augenblick ist das Labor allein für ihn reserviert.«
Miriam trat auf sie zu. »Wir beide wissen, dass du diesen Test sofort durchführen kannst.«
Sarah nahm sie in die Arme.
»Ich muss es wissen«, flüsterte Miriam.
Sarah drückte sie fest an sich.
So blieben sie stehen, Arm in Arm im verblassenden Licht der Nach- mittagssonne.
Leo lief zur Wand und zurück zur Tür. Sie dachte an eisgekühlte Scho- koladentorte, an Pfannkuchen und Krapfen und Beluga-Kaviar. Sie trat ans Fenster, ihre Stirn schweißüberströmt, und dachte an das Hühner- frikassee ihrer Mutter und an Tante Madelines Butterkekse. Sie schlug mit den Fäusten an die Wand, umschlang ihre Schultern und dachte an die Nackensteaks im Sparks und den Räucherlachs im Petrossian. Was aber wirklich zählte war der köstliche, deftige Geschmack in ih- rem Mund und der Geruch in ihrer Nase: Blut, Blut, Blut.
Als sie sein Blut getrunken hatte, hatte sie einen Teil seiner Seele in sich aufgenommen, und das Gefühl hatte sie so berauscht, dass sie mehr haben musste. Viel mehr.
Sie hatte sich in die Hose gemacht, ihre Achselhöhlen und ihre Stirn waren klitschnass, und sie bekam kaum Luft und war zu keinem ver- nünftigen Gedanken fähig. Ihr Hunger war noch lange nicht gestillt. Sie brauchte mehr. Mehr Blut.
Sie ging zur Haustür, legte eine Hand auf die glänzende Messing-
klinke und schlüpfte ins abendliche New York hinaus.
Sie war jetzt eine Jägerin, unterwegs in ihrem Revier. Sie ging zur Ecke und stieg die Stufen zum Franklin D. Roosevelt-Drive hinunter. Ein Auto schoss vorbei, kaum einen Meter von ihr entfernt, dann noch eins und noch eins. Leo rannte auf die Fahrbahn. Zwei weitere Autos kamen auf sie zugeschossen. Sie sprang einen Schritt nach vorne, als eines der beiden Fahrzeuge ihr um ein Haar den Rücken ra- siert hätte. Dann hatte sie die andere Straßenseite des Franklin D. Roosevelt-Drives erreicht, kletterte über das Eisengeländer und eilte die Uferpromenade des East River entlang.
Über dem Fluss hing ein Vollmond, der seinen glühenden Licht-
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