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Whitley Strieber

Whitley Strieber

Titel: Whitley Strieber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Kuss des Vampirs
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schein auf die schwarzen, unruhigen Wellen warf.
    Sie war völlig erschöpft, hatte sich noch nie auch nur annähernd so schlecht gefühlt. Die brennenden inneren Schmerzen waren die mit Abstand tiefste Empfindung, die sie je gespürt hatte. Sie fühlte sich wie jemand, der nicht genügend Luft in die Lungen bekam.
    Sie hielt wie ein Trüffel suchendes Schwein nach einem Opfer Aus- schau. Ihre Entzugserscheinungen waren schlimmer als die eines He- roinsüchtigen, der sich seit Tagen keinen Schuss gesetzt hatte. Es machte einen wild, weckte den Wunsch, zu rennen und nie wieder ste- hen zu bleiben; es kribbelte unter der Haut, als würde dort ein Amei- senheer herumschwirren; es pumpte einem die pure Verzweiflung ins Hirn.
    Während sie durch den Abend rannte, dachte sie an Zuhause, an das imposante Haus in Greenwich, an ihr Taft- und-Spitzen-Schlafzimmer, an ihren Vater, der sich wahrscheinlich ge- rade ein Football-Spiel im Fernsehen ansah und an ihre Mutter, die da- bei saß und strickte.
    Ihr Zuhause und der innere Frieden, den sie dort empfunden hatte, beides war für sie unwiederbringlich verloren. Ihre Füße brannten; ihr Herz raste; ihre Haut fühlte sich an, als würde sie mit Sandpapier ge- schmirgelt. Der Geschmack von Pauls Blut hing in ihrem Mund, der Geruch in ihrer Nase. Alles, woran sie denken konnte, war Blut, wie es schmeckte, wie es die Kehle hinabfloss, wie es das Feuer kühlte, das sie von innen verzehrte.
    Dann sah sie eine schattenhafte, auf einer Parkbank schlafende Ge- stalt. Sie ging näher. Ein in Lumpen gehülltes Etwas. Gut. Mann oder Frau? Ein Mann – dies war nicht so gut, denn Männer waren kräftiger. Sie setzte sich nahe am Kopf des Obdachlosen auf die Bank. Ihre

Hände zitterten fast zu sehr, doch es gelang ihr, sich eine Zigarette an- zuzünden. Sie hatte vor zwei Monaten aufgehört, aber dies war vor ih- rer Bekanntschaft mit Miriam gewesen. Miriam rauchte ununterbro- chen. Sie machte sich keine Sorgen. Warum auch? Hüter waren im- mun gegen Krebs.
    Sie nahm einen tiefen Zug und wünschte, der Rauch wäre stärker. Man bekam einen geilen Kick, wenn man Heroin in einer Zigarette rauchte, aber sie besaß kein Heroin. Sie musste sich aus eigener Kraft beruhigen.
    Sie hatte die Lanzette, und sie hatte das Opfer. Alles, was ihr nocht fehlte, war Mut. Sie blickte auf den fettigen, verlausten Haarschopf hinab. Sie wusste, dass der Mann schmutzig war und wahrscheinlich zum Himmel stank, aber sie roch nur sein Blut. Es duftete so herrlich, dass sie gierig die Luft einsog und sich immer näher zu ihm hinab- beugte.
    Sie holte die Lanzette heraus, zog die Klinge aus der Scheide – und schnitt sich dabei in den Finger. Aber bevor sie auch nur einen Tropfen Blut ablecken konnte, hatte sich die Wunde wieder geschlossen. Unglaublich. Ein Wunder.
    Sie schob vorsichtig die Lumpen beiseite. Dort war der Hals. Es war kein alter Hals. Sie wusste, dass sie ihr Opfer nach Hause bringen, dort aussaugen und anschließend vollständig verbrennen sollte. Aber wie sollte sie einen Betrunkenen über den Roosevelt-Drive lotsen und die steile Treppe hochmanövrieren, die in ihre Straße führte? Die Sa- che mit der alten Obdachlosen, die sie in der Fünfundfünfzigsten Straße Ecke First Avenue aufgegabelt hatte, war schon schwierig ge- nug gewesen.
    Sie hielt ihm die Lanzette an den Hals. Sie konnte keine Vene erken- nen, wagte aber nicht, den Mann zu berühren. Ihre Hand schloss sich fester um das Aderlass-Instrument. Dann stieß sie zu. Zuerst spürte sie einen leichten Widerstand, aber dann drang die Klinge tiefer ein, als sie beabsichtigt hatte. Genau genommen steckte sie fast bis zum Griff in seinem Hals.
    Gerade als sie die Lanzette herausziehen wollte, fuhr der Mann schreiend unter seinen Lumpen hoch und starrte sie entgeistert an. Er war höchstens Anfang zwanzig. Vielleicht war er sogar jünger als sie. Er hatte lange Wimpern, und in seinen dunklen Augen spiegelte sich das Mondlicht. Er hielt den Kopf schräg und griff sich an den Hals –, und plötzlich schoss eine Blutfontäne aus seinem Mund.

Leo wollte instinktiv nach dem Blut schnappen, aber es hatte sich schon wie umgekippte Milch auf dem Boden verteilt. Er sprang unge- lenk auf und versuchte mit seinen blutigen Fingern die blutver- schmierte Lanzette in seinem Hals zu fassen zu bekommen. Und dann erkannte sie ihn. Nicht aus dem Club, nicht aus ihrem ge- genwärtigen Leben, sondern vom College in Andover. Es war Benno Jones. Er war

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