Whitley Strieber
ausging. Man musste den Kopf zerstören.
Wenn man sie gleich nach dem Fressen erwischte, schoss das Blut aus ihnen heraus wie aus einem explodierten Blutegel.
Das Buch der Namen hatte die Identität von sechsundzwanzig Vam- piren in Asien preisgegeben. Vierundzwanzig von ihnen hatten er und seine Mannschaft verbrannt, mit Säure verätzt oder enthauptet. Von zweien hatten sie nur die Leichen gefunden; die Kreaturen waren ohne ihr Zutun gestorben.
Unfälle widerfuhren selbst Vampiren. Sie waren nicht vollkommen. Wenn man nur lange genug lebt, gerät man, statistisch gesehen, frü- her oder später in irgendeinen Unfall. Dies war ihre Krankheit – statisti- sche Wahrscheinlichkeiten.
Deshalb reisten Vampire so ungern. Sie waren territoriale Wesen und hatten wahnsinnige Angst vor Unfällen. Der Trick war, so schnell wie möglich alle Vampire in einem abgesteckten Gebiet auszumerzen
und anschließend sofort zum nächsten Einsatzort weiterzuziehen, be- vor die dortigen Blutsauger erfuhren, dass ihre Artgenossen tot waren. Pauls nächster Einsatzort war Europa. Im Buch der Namen war im- mer wieder Paris genannt worden. Er hatte sich auf die Arbeit in Paris gefreut. Nicht dass ihm Kuala missfiel, aber etwas weniger Luftfeuch- tigkeit und etwas mehr vertraute Schönheit um ihn herum konnten nicht schaden. Das Marmottan-Museum mit den wunderbaren Seero- sen- und Kathedralenbildern von Monet gehörte zu seinen besonderen Favoriten. Monet war für ihn einer der am weitesten entwickelten Men- schen, die je gelebt hatten. Er stand für ihn auf einer Stufe mit den D. T. Suzukis und Foucaults dieser Welt. Monets Bilder zu betrachten war Balsam für die Seele. Und das Licht, das aus dem Museumsgarten im Marmottan in die Ausstellungsräume fiel, nun, dieses Licht war sch- lichtweg göttlich.
»Gott, hilf mir!«, rief er laut.
»Jawohl, Sir!«
»Bitte, Sohn, sei still. Und hör auf, Leute anzufahren.«
»Ich habe niemanden angefahren. Ich bin bloß um den Lastwagen herumgefahren.«
»Du wirst nachher zurückkehren und dem Mann Geld für seinen Kar- ren geben.«
»Sir?«
»Ohne den Obstkarren werden er und seine Frau verhungern. Seine Kinder werden zur Prostitution gezwungen. Verstehst du das nicht?« »Sir, ich glaube kaum, dass ...«
» Verstehst du das nicht?«
»Doch, Sir, das tue ich, Sir!«
Konnte es sein, dass der Junge ein gedrillter Elite-Soldat in Zivil war? Nein, sieh dir seine Frisur an. Durch und durch Außenministerium. Er fiel Paul nur mit seinem militärischen Gehabe auf die Nerven. Nachher würde er seinen Freunden vom Außenministerium erzählen, dass er ir- gendein altes CIA-Arschloch herumchauffiert hatte.
Ohne seinen Karren konnte der Obst-Verkäufer sich gleich die Puls- adern aufschneiden, und Paul wusste, dass sein Fahrer nachher nicht zurückkehren und dem Mann die zwanzig Dollar geben würde, die dieser brauchte, um sein Leben wieder ins Lot zu bringen. Komischerweise arbeitete Paul in diesem Beruf, weil er Menschen mochte. Er hatte erlebt, wie viel Mist im Laufe der Jahre über die CIA verbreitet wurde und wie vielen Menschen sie dennoch das Leben ge-
rettet hatte. Die Firma konnte sich nicht verteidigen, ohne die Geheim- nisse preiszugeben, die zu hüten sie verpflichtet war. Also nahm sie alle Kritik hin. Er hatte erlebt, wie sich der Ruf der Firma selbst auf sein Privatleben ausgewirkt hatte. Es hatte eine Zeit gegeben, da schon der leiseste Hinweis auf Verbindungen zur CIA ausreichte, um von Frauen umschwärmt zu werden wie von einem Bienenschwarm. Heute war das Gegenteil der Fall.
Der Wagen bog um eine Ecke, und in der smogverhangenen Straße kam endlich das Royal Orchid in Sicht.
Was zum Henker würde er vorfinden? Dies würde das erste Vampi- ropfer sein, das sie je gefunden hatten und untersuchen konnten. Im Allgemeinen waren Vampire darauf bedacht, die Überreste ihrer Opfer vollständig zu vernichten. Nur dieses Mal nicht.
Etwas an der Sache musste faul sein. Er konnte es riechen, aber noch nicht erkennen, was es war. Eine Aufgabe ist abgeschlossen, er- ledigt. Dann plötzlich ist sie ganz und gar nicht erledigt.
Okay, denk nach. Denk es genau durch, Paul: Urplötzlich lassen sie in einem Hotel eine Leiche liegen, einen Beweis. Das Hotel befindet sich auf einem Kontinent, der gerade erst vollständig von ihrer Präsenz gesäubert worden ist.
Es sah ihnen nicht ähnlich, einen zu verhöhnen. Dazu lebten sie zu zurückgezogen und waren viel zu vorsichtig. Ihr Leben war für sie
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