Whitley Strieber
schnellstmögliche Weise umbrachte. Sie selbst versuchte, ohne zu tö- ten am Leben zu bleiben, und bezog ihre Nahrung hauptsächlich aus Blutbanken; oft beschwor sie Miriam, sich regelmäßigen Transfusionen zu unterziehen, aber diese Art der Nahrungsaufnahme machte einen nur schwindlig und übellaunig.
Miriam ging zur Tür. So wie sie sich im Augenblick fühlte, hätte sie am liebsten einen groß gewachsenen, prall mit Blut gefüllten Men- schen in das Schlafgemach hinter dem Bogenfenster hochgetragen. Ganz gleich, ob satt oder nicht, sie würde ihn tagelang auf die Folter spannen und all die alten Techniken ihrer Mutter anwenden. Sie waren die Hüter, nicht die Behüteten. Egal wie brillant, wie zahl- reich oder wie gewalttätig der Mensch war, in erster Linie war und würde er immer ihr verdammter Besitzbleiben!
Sie drückte gegen die Tür. Verschlossen. Sie rüttelte dreimal an ihr, auf genau die Weise, die vonnöten war, um die Schlossbolzen aus der Halterung zu schieben, wenn man keinen Schlüssel hatte. Hüter kann- ten keinen Privatbesitz. Jedem gehörte alles.
Die Tür schwang auf. Sie ging hinein, trat mit behutsamen Schritten in die Fußstapfen ihrer verlorenen Vergangenheit. Tiefe Stille umfing sie, Hüter-Stille. Die breiten Trägerbalken über ihr, die zu Lebzeiten ih- rer Mutter einen satten Braunton gehabt hatten, wirkten mittlerweile tiefschwarz, als hätten sie sich in Eisen verwandelt. Die an den Wän- den stehenden Gerbbottiche waren leer.
Sie schritt über den widerhallenden Holzfußboden der Faktorei zu dem schmalen Treppenaufgang. Mutter hatte ihre Opfer genau diese Stufen hochgescheucht, gefolgt von Miriam, die zugeschaut und von ihr gelernt hatte.
Wie still es hier war, stiller als an jedem Ort der Menschen. Hier war noch immer ein Hüter zu Hause, o ja. Doch wo steckte er? Sollte er nicht wenigstens ein bisschen neugierig sein, wer hier unten diese un- verkennbaren Geräusche verursachte, die nur ein weiterer Hüter ma- chen konnte, der die Heimstatt eines anderen betrat?
»Hallo?«, sagte sie, zum ersten Mal seit vielen Jahren die zischende, unendlich subtil klingende Sprache ihrer Artgenossen benutzend. Er war viel kleiner als in ihrer Erinnerung und so schmutzig wie ein Kohleeimer, eine Kreatur, die sich nicht mehr gewaschen hatte, seit die Badewannen am französischen Hof zum letzten Mal mit Milch ge- füllt worden waren. Seine Augen waren klein und schmal, und er hatte das zerknitterte Gesicht einer Fledermaus. Er kam in einem hundert Jahre alten Gehrock auf sie zu, darunter war er so nackt wie bei seiner unendlich lange zurückliegenden Geburt. Er hatte Hunger, beißenden Hunger, und sah so schemenhaft und unwirklich wie ein halb totes Ge- spenst aus.
In seinem totenblassen Gesicht prangte eine offene, hellrote Wunde, aus der Eiter tropfte. Er stammelte etwas, wirkte schrecklich begierig, und plötzlich wurde ihr klar, dass er sie für einen Menschen hielt. Sie sah so anders aus als die übrigen Hüter, dass er glaubte, sie sei ein Mitglied der Menschenherde.
Seine skelettartigen Hände packten ihre Handgelenke, umschlossen sie mit dem eisernen Griff eines Hüters. Dann trafen seine Augen die ihren. Der glänzende Schimmer seiner Begierde begann zu flackern und zu verblassen. Ihm wurde klar, dass er sich getäuscht hatte.
Er ließ die Hände an den Seiten herunterfallen, dann warf er sich vor ihre Füße. » M'aidez«, flüsterte er, nicht auf Prime, sondern auf Fran- zösisch.
Als sie auf die dreckige, hilflos auf dem Boden kauernde Kreatur hin- abstarrte, biss sie in ihre geballte Faust. Doch sie konnte ihm nichts vormachen. Er wusste, dass sie sich vor ihm ekelte. Denn er lachte wütend und verbittert, lachte, um ihre Schreie zu übertönen.
5
Pariser Dachfenster
Paul hatte die Reisende um zehn Sekunden verpasst. Er hatte gerade noch einen kurzen Blick auf die Kreatur erhascht – sie war groß ge- wachsen, trug gewöhnliche Kleidung (einen etwas altmodisch ausse- henden Hosenanzug) und hatte eine wallende blonde Mähne. Mehr hatte er nicht erkennen können.
Der Regen trommelte auf das Dachfenster; grollender Donner hallte über die Dächer von Paris hinweg. Er brüllte in den Telefonhörer: »Ihr habt sie verloren! Ihr und die Franzosen.«
Er hörte sich Sam Mazurs ebenso weinerliche wie komplizierte Erklä- rung an. Mazur war der örtliche CIA-Chef der US-Botschaft. Paul hielt eine Hand über die Sprechmuschel und flüsterte Becky Driver zu: »Das ist ein
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