Whitley Strieber
und unter Brücken und überall sonst hauste, wo es Schutz gab. Die alten Städte waren voller namen- und zielloser Wanderer gewesen, die man aufklauben konnte wie her- untergefallenes Obst.
Sie verpasste die Station Rue des Gobelins und stieg stattdessen in der Rue d'Italie aus. Als sie auf die Straße hochkam, schaute sie sich neugierig um. Sie empfand eine gewisse Zufriedenheit: In diesem
Stadtteil hatten sich die Dinge kaum geändert.
Sie beschleunigte ihre Schritte, gespannt darauf, in welchem Zu- stand das Schloss sich präsentieren würde. Falls die Hüter vertrieben worden waren – nun, damit würde sie sich beschäftigen, wenn sich das Problem tatsächlich stellte.
Vor ihr lag die winzige Rue de Gobelins, eine enge, von der Haupt- straße abzweigende Seitengasse. Sie trat hinein – und blieb verwun- dert stehen. Das ‘Schloss der Weißen Königin’ sah exaktso aus wie früher, genau wie das Ritz. Es war heruntergekommen, glich aber bis ins kleinste Detail dem Bild in ihrer Erinnerung, also ging sie davon aus, dass es noch immer von Hütern bewohnt wurde.
Bis zu diesem Augenblick war ihr nicht bewusst gewesen, wie viel Angst sie tatsächlich gehabt hatte. Sie brauchte das Mitgefühl ihrer Artgenossen. Und sie musste sie warnen. Im Durcheinander der letz- ten Stunden hatte sie fast vergessen, weshalb sie hier war und nicht zu Hause in New York.
Es war in der Tat ironisch, dass die stärkste und intelligenteste Spe- zies auf dem Planeten, die absolute Spitze der Nahrungskette, in der- selben misslichen Lage war wie der Frosch oder der Gorilla. Es war ein langsamer, ein schleichender Prozess gewesen, das Re- sultat einer langen Reihe von, wie es damals schien, brillanten Zucht- Manövern.
Vor dreißigtausend Jahren hätten sie wegen einer Seuche beinahe die gesamte Menschenherde verloren. Die armen Dinger waren ge- storben wie die Fliegen. Dann hatte man festgestellt, dass eine über- eifrige Zuchtveredelung der Auslöser für die Katastrophe gewesen war. Generationen lang hatte man sie allein auf ihren Geschmack und Nährwert hin gezüchtet, was zu einem Ungleichgewicht zwischen ro- ten und weißen Blutkörperchen geführt hatte. Mit dem Ergebnis: Der Mensch war für alle erdenklichen Krankheiten anfällig geworden. Um zu gewährleisten, dass er überleben und trotzdem eine schmackhafte und gesunde Nahrungsquelle bleiben würde, hatten die Hüter bei einer Zusammenkunft beschlossen, die menschliche Bevöl- kerungszahl zu erhöhen. Um dies zu erreichen, hatte man durch ge- wisse Züchtungen ihren saisonalen Paarungstrieb in eine ganzjährig andauernde Brunst verwandelt. Das Ergebnis war, dass die Sexualität der Kreaturen zu einer bizarren Parodie des Fortpflanzungsverhaltens gewöhnlicher Tiere geworden war. Ihre Penisse und Brüste waren rie- sig geworden. Die Körperbehaarung war verschwunden. Sie hatten
eine regelrechte Sexbesessenheit entwickelt, wobei die Weibchen zu- rückhaltender als andere Säugetiere wurden, die männlichen Exem- plare dafür umso aggressiver.
Sie ging auf die alte Stadtvilla zu. Als sie das letzte Mal durch dieses Portal geschritten war, war es Hand in Hand mit ihrer Mutter gewesen. Damals war das Gebäude neu gewesen, hatte nach Bienenwachs und frisch bearbeitetem Stein gerochen. Hunderte von Kerzen hatten die weitläufigen Räume in einen glühenden Lichtschein getaucht. Hoch oben waren hinter winzigen Fenstern behagliche Schlafgemächer ein- gerichtet worden, damit die Hüter sich unbeobachtet an ihren Opfern laben und niemand auf der Straße die lustvollen und entsetzten Schreie vernehmen konnte.
Gleich unter dem Dachboden, hinter dem kleinen Bogenfenster, be- fand sich ein prächtiges Schlafgemach, in dem ein Hüter, so lange er wollte, mit seiner Beute spielen, ihr immer wieder Angst einjagen konnte, um sie anschließend zu beruhigen und abermals in lähmende sexuelle Erregung zu versetzen. Dies verlieh dem Blut des Opfers einen unglaublich köstlichen, süßsauren Geschmack und verdeut- lichte, wie groß die geheimnisvolle Wechselwirkung zwischen Schmerz und Ekstase werden konnte.
In dieser Weise hatte sie seit langem nicht mehr gespeist. Mutter La- mia hatte es immer so gemacht. Ihre Festmahle hatten sich manchmal über Tage hingezogen. Aber Miriams menschliche Gefährten lehnten derartige Praktiken ab und hatten schreckliches Mitleid mit den Opfern, wenn Miriam Derartiges tat.
Sarah beispielsweise konnte nur zusehen, wenn Miriam ihr Opfer auf
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