Whitley Strieber
Hause sein. Sie ver- suchte es unter der normalen Nummer. Aber nur der Anrufbeantworter
meldete sich.
Sie versuchte es im Club. Auch dort meldete sich niemand, nicht zu dieser frühen Stunde. Verflucht, wo war die Frau, wenn man sie brauchte?
Vielleicht hatte sie gejagt und schlief nun tief und fest. Ja, das war es. Natürlich, das musste es sein. Sie legte den Hörer auf die Gabel zurück.
Sie überdachte ihre Lage. Sie war praktisch pleite. Unsinn, sie war niemals pleite; sie besaß Unmengen an Geld.
Vielleicht sollte sie es in einem anderen, weniger luxuriösen Hotel versuchen. Eine Restsumme musste noch auf der Visa-Karte sein. Dann überlegte sie, wie sie – in welchem Hotel auch immer – über- haupt ein Zimmer mieten sollte, ohne ihren Ausweis vorzulegen? Die Antwort war, dass es aussichtslos schien, und umso kleiner und schä- biger das Hotel war, desto vehementer würde man auf die Vorlage ih- rer Papiere pochen. Der Tallman-Pass musste verbrannt werden; das war das Einzige, wofür er noch taugte.
Ihr wurde bewusst, dass sie nach wie vor in Lebensgefahr schwebte. Die Polizei hatte eine Beschreibung von ihr, und sie hatte nicht einmal ihre Kleidung gewechselt. Man würde natürlich in allen Hotels nach ihr suchen. Logisch.
Sie musste ins Schloss der Weißen Königin flüchten. Vor fünfzig Jah- ren hatte Martin dort gelebt. Vielleicht tat er es noch immer – und viel- leicht konnte er ihr helfen.
Sie machte sich auf den Weg und gelangte nach einigen Minuten zum Place de l'Opera. Bevor sie zur Métro hinabstieg, tauschte sie in einer kleinen Wechselstube ihre thailändischen Bhat um. Sie erhielt vierzig Euro. Dazu hatte sie noch zweihundert Dollar in bar. Nicht be- sonders viel, doch sie reiste nie mit Bargeld; es war bisher nie notwen- dig gewesen. So reich zu sein machte ihre plötzliche Geldnot beson- ders schwierig. Sie wusste nicht, wie sie damit umgehen sollte. Sie stieg die Stufen hinab in die schallende Welt der Untergrund- Bahn. Sie erinnerte sich noch von ihrem letzten Besuch daran, aber sie war nur ein einziges Mal U-Bahn gefahren, und zwar als sie einen Verkehrsunfall hatte umgehen müssen, um pünktlich zu einer Opern- aufführung zu gelangen. Am Fahrscheinautomat gab es dann einige Verwirrung darum, in welche Richtung sie fahren musste. Die vorbeiei- lenden Menschenmassen machten es nicht leichter. Doch schließlich fand sie sich auf der Sitzbank eines Zuges wieder, der in die richtige
Richtung fuhr.
Das Schloss der Weißen Königin war auf einem Grundstück erbaut worden, das vor unendlichen Zeiten den Hütern zugefallen war. Es be- fand sich in der Rue des Gobelins, und ein Teil des Gebäudes war an die Gobelins-Familie vermietet und von ihr zu einer Gerberei umge- baut worden. Abends waren die Gobelins und ihre Arbeiter nach Hause gegangen; die Häute, die dort gegerbt worden waren, hatten nicht nur von Tieren gestammt. In den oberen Etagen des Gebäudes hatten Hüter gewohnt.
In der Gegend gab es viele Legenden, warum die prächtige Stadtvilla ‘Schloss der Weißen Königin’ hieß. Einige besagten, dass Blanche de Castille es hatte erbauen lassen, andere, dass es Blanche de Navarre gehört hatte. Die wahre Bauherrin war jedoch Miriams geliebte Mutter gewesen, die unter ihren Artgenossen wegen ihrer Vornehmheit, ihrer aristokratischen Blässe und aufgrund der Tatsache, dass ihre Familie aus dem weißen Wüstensand Nordafrikas stammte, auch als die ‘Weiße Königin’ bekannt gewesen war.
Zum Glück ließ der Geruch der Menschen in der Métro Miriam nicht vor Hunger mit den Zähnen klappern. So schwierig ihre Lage auch sein mochte, sie war wenigstens satt. Es war ein nahrhaftes kleines Ding gewesen, das sie in Bangkok verspeist hatte. Eine so sättigende, köstliche Mahlzeit könnte sie öfter vertragen.
Ein Akkordeonspieler stimmte ein Lied an, und Miriam schloss die Augen und hörte zu. Bestimmte Dinge in Paris schienen fast zeitlos zu sein. Als sie und ihre Mutter hier gelebt hatten, hatten die Menschen ähnliche Musik gemacht, allerdings mit anderen Instrumenten. Früher war die Musik rauer und wilder gewesen – dasselbe ließ sich aber auch von den Menschen sagen.
In Paris Nahrung zu finden war in jenen Tagen so leicht gewesen, dass einige Hüter sich dermaßen voll gestopft hatten, dass ihnen das Blut ihrer Opfer aus den Poren und allen Körperöffnungen sickerte. Die menschliche Bevölkerung war eine brodelnde, hilflose, ignorante Masse gewesen, die auf der Straße
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