Whitley Strieber
Eingangshalle und setzte sich auf den unteren Treppenab- satz. Sie legte sich die Leiche auf den Schoß, beugte sich hinab und saugte sie aus, bis außer der cremefarbenen, straff auf dem Skelett anliegenden Haut nichts mehr übrig war.
»Ist noch Säure in einem der Fässer?«
Er schüttelte den Kopf. »Alles leer.«
Schade. Es war in den alten Tagen sehr bequem gewesen, denn sie hatten die Überreste einfach in Säure aufgelöst. Es war ein geschick- ter Schachzug ihrer Mutter gewesen, die Gerber ins Haus zu holen. »Wie entsorgst du denn deine Opfer sonst?«
Er sah sie an. »Du bist es, Miriam, nicht wahr?«
»Ja, Martin.«
»Ich habe seit einem Jahr nichts mehr zu mir genommen.« Ihr Mund öffnete sich, aber sie sagte nichts, konnte nichts sagen. Sie hatte von Hütern gehört, die sechs Monate oder länger gehungert hat- ten – aber ein ganzes Jahr ohne Nahrung? Wieso war er noch am Le- ben?
»Martin –«
»Ich habe oft den Tod angefleht, mich zu holen. Doch er kam nicht. Er wollte einfach nicht kommen.« Er lächelte schwach. »Ich verwan-
delte mich in eines dieser Dinger, die du erschaffst.«
Er meinte ihre menschlichen Gefährten und was mit ihnen geschah, wenn Miriams Blut sie nicht länger jung halten konnte. Hüter mochten zwar nicht viel miteinander reden, doch von Miriam und ihren Men- schen wusste offenbar jeder.
»Das ist etwas anderes. Du wärst irgendwann gestorben.«
Er nickte. »Bestimmt.« Er hob den Blick und sah sie an. Sie schaute ihm tief in die weisen schwarzen Augen. Martin war tausende Jahre äl- ter als sie.
»Unser Ende naht, Miriam«, sagte er.
»Das stimmt nicht!«
Er nickte langsam, nicht weil er ihr zustimmte, sondern eher so, als ob er sie veralbern würde. »Du musst die Leiche irgendwie loswer- den«, sagte er. »Man wird den Mann bald vermissen, und früher oder später werden sie hier nach ihm suchen.«
»Warum hier? Wir waren hier immer sicher. Dies ist das Haus meiner Mutter.«
»Das Gebäude gehört jetzt der Stadt Paris. Man plant, es vom nächsten Jahr an, als Teil des Gobelins-Museums zu nutzen.« Er machte eine abfällige Handbewegung, eine Geste von unendlicher Traurigkeit. »Sie werden den ganzen alten Krempel rausräumen.« »Martin, bis vor einigen Jahren ging es dir noch blendend. Was ist geschehen?«
Auf seinem Gesicht, das jetzt etwas fülliger schien und unter der Schmutzschicht eine Ähnlichkeit mit der eleganten, schmallippigen Er- scheinung erahnen ließ, die sie in Erinnerung hatte, breitete sich ein Lächeln aus. Das Lächeln wurde rasch verbittert und hässlich. »Während des Krieges hatte die Resistance ihr geheimes Hauptquar- tier im unterirdischen Beinhaus des Denfert-Rochereau-Friedhofs. Sie haben uns tief unten im alten Labyrinth gehört.«
Das alte Labyrinth war die traditionelle Heimstatt der Pariser Vampire gewesen, ein Wirrwarr unterirdischer Tunnel, aus denen seit den Zei- ten der alten Römer die für den Ausbau der Stadt nötigen Steine ge- schlagen worden waren.
»Sie haben uns bemerkt. Sie glaubten, wir würden für die Deutschen spionieren, und haben uns verfolgt.«
»Aber wie konnten sie euch bemerken?«
»Durch die Geräusche, die wir machten! Sie haben diese kleinen, mit schwarzem Kohlenstoff gefüllten Büchsen –«
»Mikrofone.«
»Ja, diese Dinger. Sie haben sie überall versteckt, und unsere Stim- men wurden durch sie hindurch zu ihren Ohren getragen.«
»Aber sie verstehen unsere Sprache doch gar nicht.«
»Ah, Prime ist so schwierig, nicht wahr? Es ist so vielschichtig, und selbst für die simpelsten Ausdrücke benötigt man so viele Worte.« Er schüttelte den Kopf. »Wir haben Französisch gesprochen.«
»Aber jetzt sprichst du Prime.«
»Tatsächlich? Ja, stimmt. Wie schön. Ich werde versuchen, es beizu- behalten. Wie dem auch sei, anfangs haben sie eigentlich nichts unter- nommen. Sie waren völlig perplex. Aber du kennst ja die Franzosen; sie sind ein vorsichtiges und beharrliches Volk. Sie ließen die eigen- tümlichen Berichte der Resistance über eine Gruppe von homme sau- vages, die in den Katakomben leben, nicht auf sich beruhen. Als du das letzte Mal hier warst, wussten wir noch nichts von alledem. Aber sie waren uns die ganze Zeit auf den Fersen, verstehst du? Dann stie- gen Abgesandte des Service Sociale in die Katakomben hinab und rie- fen: ‘Zeigt euch, kommt heraus, wir wollen euch helfen’. Dann hat ein törichter Narr, dieser Idiot Emeus ...«
»Er und ich sind zusammen
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