Whitley Strieber
ansah. Es war eine archaische Form der unbewuss- ten Gefahrenwitterung – ihr für ihre Figur und Größe extremes Gewicht –, und er verstand es nicht, und das beunruhigte ihn. Sie musste unbe- dingt ihr Französisch aufpolieren. 1956 hatte niemand etwas gesagt. Andererseits hatte sie auch nicht gejagt, sondern war nur zu Chanel gegangen, um sich neu einzukleiden. Sie hatte eine Unsumme ausge- geben, und keiner der Chanel-Mitarbeiter hätte es gewagt, etwas über ihr Französisch zu sagen.
Sie bedachte ihn mit einem sorgfältig einstudierten Blick – die Brauen gehoben, die grauen Augen strahlend –, der ihn durch die Ver- bindung von mädchenhafter Unschuld und weiblicher Erfahrung betö-
ren sollte. Dieser Blick wirkte, seit sie ihn einstudiert hatte, und das war zu einer Zeit gewesen, als man noch in einen Teich hatte blicken müssen, um sein Spiegelbild sehen zu können.
Er machte nur » Hmpf«, wie ein Pferd, dem man eine Karotte hinge- halten hatte. Dann wurde er still. Sein Gang wurde fester, entschlosse- ner.
Sie hatte ihn an der Angel, endlich! Der Blick war in der Tat überaus wirkungsvoll. Er hatte schon in der Via Appia und in der Watling Street die Männer geködert, in Ur und in Athen, in Venedig und im alten Gra- nada.
»Was ist denn das – o Gott –, was zum Teufel wollen Sie in dieser schäbigen Bruchbude?«
»Sie werden schon sehen.«
»Nicht für zweihundert Franc. Ein Zimmer in einer solchen Ruine kostet höchstens fünfzig, Süße. Niemand haut Jean-Jacques übers Ohr, glauben Sie mir.«
Wenn sie sein Angebot annahm, würde er denken, dass sie krank war, und damit wäre die Sache gestorben. Sie musste etwas Zeit ver- geuden und feilschen.
»Im ersten Stock ist es sehr schön. Geben Sie mir hundertfünfzig.« »Was? Immer noch zu ...«
»Hundertfünfzig. Und nur dann, wenn Ihnen das Zimmer zusagt.« »Und wenn nicht?«
»Dann habe ich Pech gehabt. Dann mache ich es für fünfzig und werde eine volle Stunde lang ihre geheimsten Wünsche erfüllen, mein Herr.«
»Ihr Französisch klingt wirklich faszinierend, wissen Sie das?« Er schaute an Mutter Lamias altem Palast hoch, an der schmutzigen grauen Kalksteinfassade, zu dem spitz zulaufenden Dachgiebel und den winzigen Turmfenstern. Sie wusste, was in seinem Kopf vorging: Soll ich wirklich mit dieser sonderbaren Frau dort hineingehen? »Ich wohne hier. Drinnen sieht es ganz anders aus, als es von außen scheint.«
Er verzog das Gesicht, folgte ihr aber durch die Tür in die höhlenar- tige Empfangshalle. Er blieb stehen und schaute zu dem im Schatten liegenden Deckengewölbe hoch. »Mein Gott, was für ein unheimlicher Ort!«
»Kommen Sie.« Sie ging auf die Treppe im hinteren Teil der düste- ren, weitläufigen Halle zu.
»Diese Treppe ist eine Todesfalle!«
Mach es mir nicht so schwer, nicht wenn ich es so eilig habe, dachte sie. Sie sagte: »Aber mein Herr, die Treppe führt zu meinen Gemä- chern.« Sie ging mit schwingenden Hüften auf die Treppe zu. »‘Mein Herr! Meine Gemächer!’ Sie sind wirklich sonderbar, und ich werde nicht mit Ihnen dort hochgehen, egal wie schön Sie sind. Wahr- scheinlich schmecken Sie sowieso wie ein Aschenbecher, so viel wie Sie rauchen.«
Der Mann wandte sich um und ging zum Ausgang. Sie holte zi- schend Luft und wandte sich ebenfalls um.
Mit wenigen raschen Schritten hatte er die Tür erreicht. Er umfasste den Türring und zog schon daran. Miriam sprang ihm mit einem mäch- tigen Satz hinterher. Er sah sie gerade noch heranfliegen und riss einen Arm hoch. Für den Bruchteil einer Sekunde trafen sich ihre Bli- cke. Sie schlug ihm mit der Faust auf die Schädeldecke, genau an der richtigen Stelle und mit genau der Wucht, derer es bedurfte, um ihm das Bewusstsein zu rauben. Er fiel mit einem dumpfen Knall auf den Boden.
»Martin«, sagte sie, »schau, was ich dir mitgebracht habe.« Er hatte alles mit angesehen, verborgen hinter einem der alten Gerb- bottiche. Er trat hinter seinem Versteck hervor und kam mit dem schleppenden Gang eines stark geschwächten Hüters näher. Er roch nach ausgetrocknetem, ranzigem Fleisch und altem Blut. Seine Augen glommen gierig.
Sie sah zu, wie er sich panthergleich auf den weichen Körper seines Opfers warf. In seinen geschmeidigen Bewegungen war etwas von dem alten Martin zu erkennen, etwas von seiner früheren Anmut und sogar ein bisschen von seiner früheren Kraft.
Er legte seinem Opfer die Lippen an den Hals, an der traditionellen Stelle also.
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