Whitley Strieber
aufgewachsen. In Theben gehörten er, ich, Ammas Sohn Sothis und Tothens Sohn Tayna derselben Kinder- bande an.«
»Tothen nennt sich heute Monsieur Gamon. Er lebt hier. Die Übrigen hat der Wind verstreut.«
»Tayna hat in Schanghai als Mr. Lee gelebt.« Und war umgebracht worden, wie Miriam annahm. Doch sie sagte es nicht.
»Emeus hat einen der Männer vom Service Sociale ausgesaugt. Das Inferno, das daraufhin losbrach, dauert bis heute an.«
Also wussten es auch die Menschen hier in Frankreich. »Was wissen sie?«
»Keine Ahnung, was sie wissen und wie sie uns finden. Ich weiß nur, dass es in den vergangenen Jahren höllisch gefährlich wurde, auf die Jagd zu gehen.« Er sah sie auf eine Weise an, die sie bei einem Hüter noch nie gesehen hatte: völlig verzweifelt. Sie fand es zutiefst verstö- rend, in den Augen eines ihrer Artgenossen einen so angstvollen menschlichen Ausdruck zu sehen.
»Und warum hast du vor einem Jahr ganz mit dem Jagen aufgehört? Was genau haben sie getan?«
»Sie sind gekommen! Ich hatte gerade gespeist – ich bin im 12. Ar-
rondissement aus dem Labyrinth hochgestiegen. Die übliche Me- thode.«
»Was genau meinst du mit ‘sie sind gekommen’?«
»Ich hatte ein äußerst schmackhaftes Opfer ausgewählt, es roch großartig, und schon an seiner Hauttönung ließ sich erkennen, dass es ein Festschmaus werden würde. Ich habe es in eine kleine abge- schlossene Örtlichkeit gelockt, auf eine Toilette, wenn ich mich recht entsinne. Ich saugte es aus und packte die Überreste in meinen klei- nen Koffer, den ich immer bei mir trage, und plötzlich waren sie da, Polizisten! Sie rannten mir nach, verfolgten mich in Autos, sprangen aus Türeingängen hervor. Es war phänomenal. Ich konnte nur entkom- men, indem ich über eine hohe Mauer sprang und in der Kanalisation verschwand.«
Sie holte ihre Zigaretten heraus und zündete eine an. Wie müde sie sich plötzlich fühlte. Sie spürte, dass ihm mehr widerfahren war, als er bisher berichtet hatte, und sie wollte alles hören.
»Erzähle weiter, Martin.«
»Du bist wunderschön.«
Ich möchte kein Kind von einem so schwachen Geschöpf wie diesem, dachte sie. Ich brauche die besten Gene, die ich finden kann.Sie sagte: »Du hast deine Geschichte noch nicht beendet.« »Miriam, sie haben mich gefangen.«
Die Worte hallten in Miriams schockiertem Schweigen wider. »Sie haben mich untersucht, Miriam. Sie haben meinen Kiefer geöff- net, mich gewogen, Körpersäfte entnommen!«
»Aber du bist geflohen?«
»Sie wollten mich glauben lassen, dass ich ihnen entkommen wäre. Aber es war ziemlich offensichtlich – unverschlossene Türen und so. Mir war sofort klar, dass sie mich absichtlich hatten fliehen lassen.« Sie spürte die in ihr aufwallende Hitze. Ihr Blut floss schneller. Wenn sie ihn absichtlich hatten entkommen lassen, dann befand sie sich auch an diesem Ort in höchster Gefahr.
»Was geschah als Nächstes?«
»Ich habe monatelang gewartet – einen vollen Mond-Zyklus. Dann suchte ich mir ein Opfer – einen halb verhungerten Clochard, der in ei- nem heruntergekommenen Viertel jenseits der Périphérique unter ei- ner Brücke lebte. Ich hatte noch nicht einmal seine Vene geöffnet, als sie plötzlich mit ihren Automobilen herangebraust kamen und über das Brückengeländer zu mir heruntersprangen – es war entsetzlich. Ich bin
fortgerannt.«
»Aber du musst doch schrecklichen Hunger gehabt haben.« »Ich habe es einige Tage später erneut versucht. Dieses Mal fuhr ich mit dem Zug in die Außenbezirke, wo die Braunen leben, die sie ratons nennen. Wieder wählte ich ein Opfer aus, trennte es in einem Kino von der Herde und wollte gerade meine Mahlzeit beginnen.« »Sie sind erneut aufgetaucht.«
»Dutzende! Überall! Dieses Mal entkam ich nur ganz knapp. Ich bin hierher zurückgekommen und halte mich seitdem in diesen Gemäuern versteckt.«
»Aber wie konntest du ein ganzes Jahr lang keine Nahrung zu dir nehmen, Martin? Das ist unmöglich.«
»Das Motto meiner Familie lautet, dass nichts unmöglich ist, wenn es nicht anders geht. Ich habe aus streunenden Katzen getrunken, aus Mäusen, aus Ratten. Ich lebte von dem Ungeziefer, das der Zufall mir heranspülte!«
Kein Wunder, dass er so stank. Ein Hüter konnte von solchem Blut nicht existieren, konnte nur gerade so überleben. Sie wollte einen von ihrer Art nicht bemitleiden, besonders einen, an den sie sich immer mit höchstem Respekt erinnert hatte. Er war stets ein
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