Whitley Strieber
den mitgebrachten Aluminiumkoffer. Er gab jedem eine besonderes leichte Körperpanzerung aus Kevlar. »Vergessen Sie nicht, dass diese Kreaturen Experten im Messerwerfen sind. Aufgrund ihrer Muskelkraft können sie es einem fast mit der Geschwindigkeit ei- ner Pistolenkugel in die Brust schleudern.«
Paul fiel der Vampir in Sinha ein. Er hatte Len Carter getötet, indem er ein Messer auf ihn geworfen hatte, das durch Lens Körper hindurch- geschossen war und die zehn Meter hinter ihm stehende Becky noch getroffen hatte. Ihre Halswunde hatte mit dreißig Stichen genäht wer- den müssen. Hätte sie in diesem Augenblick nicht leicht abgewandt von ihm gestanden, ihre Halsschlagader wäre zerfetzt worden. Bocage verteilte Revolver, die Paul noch nie zuvor gesehen hatte. »Wenn Sie einmal abdrücken, feuert diese Waffe automatisch fünf der fünfzehn im Magazin steckenden Spezialkugeln ab. Sie hat kein Laser- visier, weil Laser nichts nützen. Vampire sehen den Lichtstrahl und sind flugs wieder verschwunden. Die Kugeln sind so konstruiert, dass sie nach dem Abfeuern in Millionen winziger Schrapnell-Geschosse zerspringen. Ein einziger Schuss pulverisiert alles im Umkreis von fünf Metern. Vergessen Sie nicht, dass – ganz gleich, wie schwer getroffen der Vampir scheint – er nur kurzzeitig außer Gefecht gesetzt ist. Kom- men Sie keinesfalls in die Nähe seines Mundes, und legen Sie ihm so-
fort Handschellen an. Ist das klar?«
Sie kannten die Litanei in- und auswendig. Doch jeder lauschte so konzentriert, als ob er es noch nie im Leben gehört hätte. Ein Profi lässt sich niemals einen möglichen Vorteil entgehen. Jetzt noch einmal alle Verhaltensmaßregeln vorgebetet zu bekommen, konnte im ent- scheidenden Moment die Reaktionszeit um eine Hundertstelsekunde verringern. Vielleicht würde dies ein Leben retten.
Miriam bezahlte ihre zehn Franc und passierte den Eingang zu den Beinhaus-Katakomben. Sie hatte eine Stunde in der Lafayette-Galerie zugebracht und sich legere Kleidung und eine Perücke gekauft. Die Person, die diesen Ort nun besuchte, hatte nicht mehr die geringste Ähnlichkeit mit der Frau, die am Vorabend am Schloss der Weißen Kö- nigin vorbeigegangen war. Von ihren Verbrennungen waren an ver- schiedenen Stellen ihres Körpers lediglich einige gerötete Hautpartien zurückgeblieben. Ihre rechte Hüfte war noch ein wenig steif. Aber die- ser kaugummikauende Teenager mit dem schwarzen, stufig geschnit- tenen Haar hatte nichts mehr mit der aschfarbenen, völlig entkräfteten Horrorfigur von vor zwölf Stunden gemein. Sie wirkte entspannt und freundlich, und in ihren hellen Augen schimmerte die beflissene Un- schuld achtzehn oder zwanzig wohl behüteter Lebensjahre. Jeder Mann hätte sie nur zu gern schützend in die Arme genommen und vor dem Ungemach der Welt bewahren wollen. Das kleine Goldkreuz um ihren Hals ließ darauf schließen, dass sie an Gott glaubte. Ein Mann, dem es irgendwie gelungen wäre, diesen süßen Teenager zu verfüh- ren, wäre kaum überrascht gewesen, hätte er sie verlegen stammeln hören: »Aber ich bin noch Jungfrau.«
Mit den bedächtigen, geschmeidigen Bewegungen einer Katze stieg sie die Wendeltreppe hinunter. Die Wegekarte, die sie mit ihrem Ticket erhalten hatte, zeigte nur das eigentliche Beinhaus, aber sie kannte die altertümlichen Hinweise, die sie vom öffentlichen Bereich in das Labyrinth und vor allem in die Kaverne hinabführen würden, in der das Buch der Namen und die anderen gemeinsamen Besitztümer der fran- zösischen Hüter aufbewahrt wurden.
Sie beabsichtigte, ihre Artgenossen zu warnen, doch selbst wenn sie ihr glaubten, würde sie das Buch der Namen mitnehmen. Sie durfte nicht riskieren, es hier zu lassen, ganz gleich, was die anderen dar- über denken mochten. Wenn sie sich widersetzten, würde sie das Buch gewaltsam an sich bringen.
Auf der Treppe begegnete sie zwei Touristen. Sie veränderte ihre Körpersprache, wurde zu einem gewöhnlichen, etwas nervösen Mäd- chen. Die Touristen waren plumpe Deutsche und stanken nach ihrem kürzlich eingenommenen Mittagessen: gebratenem Schweinebauch mit Klößen. Der Mann hatte hässliche dünne Venen. Ihr gefiel die di- cke Halsschlagader der Frau. Sie wäre ein leckerer Schmaus. Sie schnüffelte im schwachen Wind, der aus dem Treppenhaus hochwehte. Nicht der leiseste Hauch des lieblichen, unendlich zarten Wohlgeruchs anderer Hüter lag in der Luft. Jeder Hüter hatte seine ganz eigene Duftnote, eine Mischung aus
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