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Whitley Strieber

Whitley Strieber

Titel: Whitley Strieber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Kuss des Vampirs
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zu Staub.
    Während er mit eingeschalteter Taschenlampe durch den Gang schritt, wurde ihm bewusst, dass dieser Raum, diese Halle, gut acht- hundert Meter lang sein musste. Gesicht um Gesicht starrte ihn an, je- des mit eingefallenen Augenhöhlen und gefletschten Zähnen. Jeweils zwanzig Leichen waren übereinander gestapelt.
    Dies war der Ort, wo die wirklichen Toten von Paris lagen, die An- onymen, die Verschwundenen, die Vergessenen. Ironischerweise be- fand sich dieses andere, viel schrecklichere Beinhaus tief unter dem Denfert-Rochereau-Trakt, als hätten dessen Erbauer durch eine Erin- nerung aus dem kollektiven Unbewussten oder durch die Einflüsterun- gen der Toten geahnt, dass es irgendwo unter ihren Füßen eine noch viel größere Grabstätte gab.
    Wie viele dieser Menschen hatten weinende Angehörige hinterlas- sen, die niemals erfuhren, ob sie um einen Verstorbenen trauern oder einen Davongelaufenen verachten sollten?
    Eine so große Wut stieg in Paul auf, dass er mit lauten Schritten da- hinstapfte, ohne sich um sein Leben oder das so wichtige Buch zu sor- gen, das er bei sich hatte. Er glich einem Soldaten, der nur an den Sieg dachte und Schritt um Schritt auf den nächsten Hügel zumar- schierte.
    Bislang hatte er in dieser Halle keinen Unterschlupf entdeckt, an dem man sich hätte verstecken können. Das hieß, dass sich die übrigen Vampire irgendwo vor ihm befinden mussten.
    Er hatte noch zwei Schüsse im Magazin. Er zog es heraus, warf es in den Rucksack, nahm ein volles und schob es in die Waffe. Wenn es soweit kommen sollte, würde er erst das Buch in Fetzen schießen und sich die letzte Kugel in die Schläfe jagen. Er mochte hier nicht mehr le- bend herauskommen, aber das Buch der Namen bekämen sie trotz- dem nicht zurück.
    Der Gedanke, wie diese armen Menschen ausgesaugt zu werden, verursachte einen so starken Brechreiz in seinem Rachen, dass er sein eigenes Erbrochenes herunterwürgen musste. Er würde auf kei- nen Fall so sterben, mit den Lippen eines Vampirs am Hals. Er musste verschwinden. Die Luft war Ekel erregend, die Atmo- sphäre klaustrophobisch. Die Leichen lagen in hunderten verschiede-

ner, von Kampf und Leiden kündenden Stellungen da; die verzerrten Gesichter kündeten noch immer von unendlichem Entsetzen, von Schmerz und Überraschung.
    Irgendwann erblickte er vor sich eine Tür. Er eilte zu ihr und suchte die Klinke. Stattdessen entdeckte er einen silbernen Ring. Als er daran zog, glitt die Tür mit einem leisen Klickgeräusch zurück.
    Einen solchen Ort hatte es in Asien nicht gegeben. Zumindest hatten sie nichts Derartiges entdeckt. Aber sie hatten auch eine regelrechte Mordorgie veranstaltet, verglichen mit den erfahrenen, subtil vorgehen- den Franzosen. Im Töten war er gut, ein Katz-und Maus-Spiel, wie Bo- cage es mit den weitaus gefährlicheren Vampiren in Europa veranstal- tete, war dagegen nicht so sehr seine Sache.
    Der Lichtstrahl glitt über die Wände – und plötzlich erblickte er ein menschenähnliches, ihn offen anstarrendes Gesicht. Er schluckte, war einen Moment lang benommen vom Blick der Augen ... Augen, die ihn aus einer unsagbar fernen Vergangenheit ansahen. Kein Mensch hatte je zuvor den Blick auf das geworfen, worum es sich hierbei handeln musste, auf ein lebensechtes Portrait eines Neanderthalers, auf ein Portrait, das aussah, als wäre es erst gestern gemalt worden. Das Bild war aufgetragen auf etwas, das wie eine glatt polierte, viel- leicht mit Wachs beschichtete Steinplatte aussah. Doch als er genauer hinschaute, sah er, dass es kein Gemälde war, sondern ein erstaunlich feines Mosaik. Es setzte sich aus so winzigen, perfekt aneinander ge- legten Steinsplittern zusammen, dass es für seine darüber streichen- den Finger völlig ebenmäßig schien.
    Dies war das Werk eines meisterhaften Künstlers, erschaffen vor un- endlich langer Zeit. Daneben hing ein weiteres Mosaik, das, wie er glaubte, eine Art genetischen Bauplan darzustellen schien – äußerst verschlungen und detailliert.
    Betrachtete er einen Neanderthaler und daneben dessen geneti- schen Bauplan? Wenn ja, was war dies dann für ein Raum? Was war hier vorgegangen? An den Wänden hingen weitere Bilder, einige sogar von noch älteren Geschöpfen, in denen die ersten Andeutungen des Menschen überlagert wurden von der starrenden Wildheit des Affen. Wenn man die Bilder nacheinander betrachtete, bemerkte man eine chronologische Reihenfolge, die mit einem kleinen, erschrocken bli- ckenden

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