Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Whitley Strieber

Whitley Strieber

Titel: Whitley Strieber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Kuss des Vampirs
Vom Netzwerk:
das von ihr ausging. Sarah sagte sich, dass Raubtiere nun einmal töten mussten, um zu überleben und dass dies schließlich auch nicht als verwerflich galt. Als Ärztin jedoch war sie dem Wohlergehen der Menschen verpflichtet, und dies beinhaltete gewiss nicht, sie umzubringen. Doch das Ge- schöpf neben ihr hatte Kinder und Väter und Mütter umgebracht – hatte ihnen das Blut ausgesaugt. Und sie selbst hatte dasselbe getan ... in ihrem schandhaft geheimen Leben.
    Genau dies war der große Zwiespalt, unter dem sie so litt: Die Natur braucht den Räuber, um das Gleichgewicht zwischen den Gattungen aufrecht zu halten. Einer der Gründe, warum die menschliche Überbe- völkerung die Welt zerstörte, war, dass die Hüter ihre natürliche Mission nicht erfüllen konnten. Es waren einfach zu wenige, um eine relevante Zahl von Menschen zu töten.
    Miriam pflegte sich als Teil dessen zu betrachten, das der Welt Ge- rechtigkeit brachte. Und Sarah konnte nicht bestreiten, dass auch sie selbst sich in dieser Rolle gefiel – und es bis zu einem gewissen Grad genoss. Sie hatte in die tränenschimmernden Augen ihrer Opfer ge- blickt, hatte sie verenden sehen, während sie sie unbeholfen ausge- saugt hatte, und sie kannte das berauschende Gefühl, das frische Blut eines anderen Menschen zu spüren. Man fühlte sich leicht wie Luft. Jedes kleine Wehwehchen verschwand augenblicklich. Man wurde ge- lenkig wie ein Olympia-Turner. Die Haut wurde rosig und makellos wie die eines jungen Mädchens. Und das Herz – es schlug mit einem Wonnegefühl, das nur von etwas herrühren konnte, das zutiefst richtig war. Ja, um den Auftrag der Natur zu erfüllen, musste man eben in finstere Abgründe blicken. Was für eine Sucht dies doch war, diese Sucht nach fremdem Blut.
    Sarah wusste, dass sie ihre sonderbare neue Auslegung der Natur- gesetze benutzte, um ihre Taten zu rechtfertigen. Aber ihr war keine andere Wahl geblieben. Miriam hatte sich in sie verliebt und sie ohne Erlaubnis mit ihrem Blut infiziert, nachdem sie Sarah eingeschläfert hatte. Als Sarah, völlig erschöpft und mit schlimmen Gliederschmerzen erwachte, hatte sie nicht gewusst, was geschehen war.
    Dann hatte ein schrecklicher innerer Kampf begonnen. Sie hatte ver-

sucht sich von Blutkonserven zu ernähren, die aus kommerziellen Blut- banken stammten. Sie hatte versucht sich von Tierblut zu ernähren. Dann hatte sie nicht mehr weiterleben wollen. Sie war in einen todes- ähnlichen Dämmerschlaf gefallen, wurde in einen Sarg gelegt und zu Miriams anderen verblichenen Gefährten auf den Dachboden gestellt. Aber Miriam hatte Sarahs wissenschaftliche Erkenntnisse dazu be- nutzt, sie wieder zum Leben zu erwecken. Danach war Sarah einver- standen gewesen, sich vernünftig zu ernähren. Sie war nicht stark ge- nug, sich wieder an das entsetzliche Dasein in einem Sarg zu gewöh- nen. Denn wenn ein Mensch Hüterblut in den Adern hatte, konnte er Jahrhunderte vor sich hindämmern, ohne jemals wirklich zu sterben. Sarah hatte erlebt, wie es war, in einem Sarg gefangen zu sein, unfä- hig, sich zu bewegen, zu atmen, nicht einmal in der Lage, ein Lid zu heben. Sie war sich der sie umgebenden Finsternis bewusst gewesen, des Sargdeckels über ihr, der Insekten, die über ihren Körper krochen, des schwachen Murmelns des Straßenverkehrs vor dem Haus. Sie hatte Miriam auf der Viola spielen und Düsenflugzeuge über das Gebäude hinwegbrausen gehört, hatte das vage Plätschern des East Rivers vernommen und das Rauschen vom Franklin D. Roosevelt Drive. Hunderte Male war sie, gefangen in den Überresten ihres Kör- pers, fast wahnsinnig geworden. Und neben ihr hatten weitere solcher Särge gestanden, in ihnen ebenfalls gefangene Seelen, einige davon tausende Jahre alt.
    Dann hatte sie auf den breiten Dielen des Dachbodens das Klacken von Schuhabsätzen vernommen, auf den Augenlidern plötzlich ein grelles Licht gespürt, einen verschwommenen Schatten erkannt und sich mit einem Mal gefühlt, als flösse Champagner in ihren Adern, als durch einen intravenösen Schlauch Tropfen um Tropfen neuen Le- bens, Leben, in ihren Körper strömte.
    Miriam hatte Sarahs Studien gelesen und ein Experiment entwickelt, das sich als erfolgreich erwies. Zum ersten Mal in den zweitausend Jahren, in denen sie es versuchte, hatte sie einen ihrer menschlichen Gefährten wieder zum Leben erweckt. Sie hatte es auch mit den ande- ren probiert, doch für diese war es zu spät gewesen, selbst für den jüngsten von ihnen,

Weitere Kostenlose Bücher