Whitley Strieber
als Sarah ihn um die Wodkaflasche bat.
»Das kann ich sie nicht fragen.«
»Ich verstehe«, sagte er. Er war zu dem Schluss gelangt, dass Sarah eine Art persönliche Assistentin war und dass die Dame nur von ihr bedient werden wollte. Er stellte die Wodkaflasche auf ein kleines Ta- blett. »Soll ich Sie rufen, damit Sie ihr die Mahlzeit servieren können?« »Madame wird keine Mahlzeit einnehmen.«
»Schön.« Er wandte sich zu den anderen Passagieren um. Der Bord- service der Concorde war in allen drei Kabinenbereichen exakt der- selbe, wenngleich im Dritten üblicherweise Touristen saßen, in dem davor hauptsächlich Geschäftleute und ganz vorne bedeutende Per- sönlichkeiten. Air France mochte nicht wissen, wie bedeutend dieser spezielle Passagier tatsächlich war, aber Sarah hatte, wie immer, da- für gesorgt, dass Miriam mit größtem Respekt behandelt wurde. Der Umstand, dass Sarah trotz aller dekadenten Annehmlichkeiten, die sie genoss, gewisse Probleme mit Miriams Lebensstil hatte und noch immer bezweifelte, ob es rechtens war, Menschen als willfährige Beute zu betrachten, änderte nichts an ihrem Respekt für ihre Herrin. Auch Miriam war ein Geschöpf Gottes, und sie war ein Triumph der Natur. Für einen Wissenschaftler – und das war Sarah –, war Miriams Blut ein eigenständiges, wahrhaft bemerkenswertes Organ. Es besaß sechs verschiedene Zelltypen, darunter einen, der – wie unter dem Elektronenmikroskop zu beobachten – fortwährend schädliche Viren- partikel einfing und zerstörte und anschließend in ihre ungefährlichen chemischen Ausgangsstoffe zurückverwandelte.
Manchmal schien es fast, als wäre ihr Blut intelligent, wenn man sah, wie es Bakterien ganz gezielt in Fallen laufen ließ. Und wie es ihren Körper von Freien Radikalen befreite, war ebenfalls bemerkenswert. Beim Menschen geschah dies mittels eines Zellteilungsmechanismus', der mit zunehmendem Alter träge und unproduktiv wurde. Bei ihr da- gegen war es ein fortdauernder Reinigungsprozess, bei dem das Blut die Freien Radikalen durch eine Veränderung ihrer Atomstruktur ein- fach in Nährstoffe umwandelte.
Sarah hatte sich oft der Vorstellung hingegeben, dass Miriam im Grunde genommen aus ihrem Blut bestand und ihr Körper lediglich als Behältnis für dieses erstaunliche Organ diente.
Sie hatte die Wirkung von Miriams Blut am eigenen Leib erfahren, hatte gespürt, wie es sich nach einer Periode der Akklimatisation an ihre persönlichen Bedürfnisse anpasste, indem es einen Großteil sei- ner bemerkenswerten Kräfte auf ihr eigenes Blut übertrug, seine für sie lebenswichtigen Eigenschaften aber unverändert ließ.
Es konnte jedoch nicht die Struktur ihrer Zellen verändern; daher mussten sie Freie Radikale weiterhin auf althergebrachte Weise zer- stören. Miriams Blut bewirkte jedoch, dass sich nur verschwindend ge- ringe Mengen dieses todbringenden Krankheitserregers bildeten, so- dass Sarahs Zellen von dieser Reinigungsarbeit weitgehend befreit
waren. Trotzdem alterte Sarah. Aber eben nur sehr, sehr langsam. Manchmal ging sie auf den Dachboden und flüsterte zu den anderen: »John, ich komme, Lolia, ich bin gleich bei dir.« Sie berichtete ihnen, was Miriam so trieb, sprach von ihrer eigenen Arbeit, und dass sie ver- suchte, auch sie wieder zum Leben zu erwecken. Sie wusste schließ- lich aus eigener Erfahrung, wie schrecklich es war, in diesen Särgen zu liegen. Sich nur wenige Tage in diesem todesähnlichen Zustand be- funden zu haben war so entsetzlich gewesen, dass sie davon noch im- mer Albträume bekam. Lollie lag schon seit dreihundert Jahren dort. Und es gab andere, die aus kaum mehr als einem Gebiss und langen Haarsträhnen bestanden, Menschen, die Miriam zu Füßen gelegen hatten, als sie noch die Tochter eines Pharaos gewesen war. Dass Miriam sich aus reiner Selbstsucht mit diesen Gefährten be- schenkt hatte, war Sarah unangenehm aufgestoßen. Dies war ein wahrhaft menschenverachtender Zug, und eine Zeit lang hatte sie ge- glaubt, dass dies eine Rechtfertigung wäre, um Miriam zu sabotieren. Doch ihre gemeinsamen Nächte im Bett, die Nächte ... das aus- schweifende Leben an Miriams Seite, das gemeinsame Viola-Spielen, die Clubbesuche ... und die Welt mit den Augen eines Hüters zu be- trachten, so als wäre alles immer wieder völlig neu – sie hatte einfach nicht die Kraft, dies aufzugeben.
Sie wollteMiriam, jetzt sofort. Wollte in ihren stählernen Armen lie- gen, wollte die Küsse eines Mundes
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