Whitley Strieber
schmecken, der den Tod brachte – die Extase, die dies in ihr entfachte, war, wie sie annahm, himmli- scher als vom lieben Gott persönlich in die Arme genommen zu wer- den.
Die Wahrheit war, dass sie dieses Geschöpf anbetete, das sie ei- gentlich hätte hassen sollen. Sie hatte nicht die moralische Stärke, der Anziehungskraft ihrer Herrin zu widerstehen. Wäre sie Heras Dienst- mädchen oder Proserpines Leibeigene gewesen, es hätte keinen Un- terschied gemacht. Ein Mensch hatte sich in einen grausamen Gott verliebt.
Wenn Miriam auf Reisen ging, war Sarah diejenige, die zuvor alle nö- tigen Arrangements traf. Meist begleitete sie ihre Herrin und sorgte da- für, dass alles reibungslos lief und so war, wie Miriam es wünschte und verdiente. Es erfüllte ihr Herz mit berauschender Freude, Miriams Wünsche zu erfüllen. Sie kannte ihre Familiengeschichte und ihre Be- deutung für die Menschheit. Miriams Vorfahren hatten die ägyptische Zivilisation begründet. Ihr Vater hatte die Israeliten nach Kanaan ent-
sandt. Soweit es ihn betraf, hatte er nur seinen Grundbesitz vergrö- ßern wollen, aber in welcher Weise sich dies auf die menschliche Ge- schichte ausgewirkt hatte, war, selbstredend, bemerkenswert. Miriam selbst hatte dutzende verschiedener Aspekte der westlichen Zivilisa- tion erschaffen und genährt. Ihre Gestalt prägte die Literaturge- schichte. Sie war die Jungfrau Shulamite, sie war Beatrice, sie war Abelards Heloise und Don Quichotes Dulcinea – oder genauer: Sie hatte einst dem hoffnungslos niedergeschlagenen Miguel de Cervan- tes ein Lied gesungen und ihn dadurch zu seiner Romanfigur inspiriert. Sie war nicht Shakespeares Dark Lady, aber sie hatte die Frau ge- kannt. Die Geschichte ihrer Mutter, Lamia, hatte die griechische My- thologie geprägt. Ihre Figur hatte in der im siebzehnten Jahrhundert er- schienenen Anatomie der Melancholie Eingang gefunden, und 1820 hatten die geflüsterten Legenden über Lamia John Keats zu seinem Lyrikband Lamia und andere Gedichte inspiriert.
Es gab zahllose Hüter, aber Miriam und ihre Eltern hatten den mit Abstand größten Einfluss auf den Menschen gehabt.
Und nun war sie die Freundin und Geliebte einer einfachen Ärztin aus Queens, deren größter Ehrgeiz es vermutlich sein sollte, ihrer Her- rin zu dienen und sie vor allem Ungemach zu beschützen. Stattdessen jedoch sah Sarah sich in einem schrecklichen Zwiespalt gefangen, denn sie konnte nicht glauben, dass Miriam das Recht zum Töten be- saß, und gleichzeitig war sie nicht imstande, etwas anderes zu tun, als ihrer Herrin zu dienen.
Ein Hüter tötete etwa zwanzig Mal im Jahr. Sarah selbst tat es nur zehn Mal ... und jedes mal brach es ihr das Herz, wenn sie ein wim- merndes, verängstigt blickendes Opfer in den Armen hielt. Nach einem Mord musste sie tagelang weinen. Jedes Mal schwor sie, damit aufzu- hören und nahm sich vor, sich nur noch von Blutkonserven zu ernäh- ren.
Sarah kehrte mit dem Wodka zurück und schenkte Miriam einen zweiten Drink ein. »Ich wünschte, ich könnte dich irgendwie aufrich- ten«, murmelte sie. »Ich weiß, dass etwas nicht stimmt, und es ist mehr als bloß dieser Flug. Bitte, erzähle mir, was geschehen ist.« Miriam spülte den Drink hinunter. »Fünftausend Dollar für ein Ticket, und trotzdem darf ich nicht rauchen.«
»Du wirst im Wagen rauchen können.« Sie schaute zu der elektroni- schen Landkarte in der Kabinenwand auf. Sie donnerten gerade mit Mach 2 über die irische Küste hinweg. »Nur noch zwei Stunden, Ma-
dame.«
»Warum nennst du mich so?«
»Weil du so empfindsam wirkst.«
Miriam nahm Sarahs Kinn und wandte ihr Gesicht, bis sie, fast Nase an Nase, dasaßen wie zwei tuschelnde Freundinnen. »Ich habe Schreckliches hinter mir. Und ich bin stocksauer, Sarah. Auf dich.« »Das weiß ich.« Sie war nach Berkshire gefahren, um für einige Tage dem Trubel in Manhattan zu entkommen. Sie hatte ihr Mobiltele- fon zu Hause gelassen.
»Wenn ich mich nicht auf dich verlassen kann, auf wen dann?« Sarah spürte, dass ihre Wangen heiß wurden, genau wie im Hotel, als sie Miriam gebadet und an ihrem Körper die zahllosen wunden Stellen und feuerroten Hautpartien gesehen hatte. Das war das Heil- trauma. Da Sarah wusste, dass Hüter-Blut praktisch alle Wunden in- nerhalb von Minuten verheilen lassen konnte, war ihr klar, dass Miriam schwer verletzt gewesen sein musste.
»Erzähle mir, was geschehen ist, Miri.«
Miriam wandte den Kopf zum Fenster.
Sarah berührte
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