Wicked - Die Hexen von Oz
Nessie«, sagte Elphaba. »Ich habe kein Interesse, mit dir über meine Gewissensnöte zu sprechen.«
»Warum bleibst du nicht hier, arbeitest bei mir mit und wir lassen dich taufen?«, sagte Nessarose herzlich.
»Wasser bereitet mir schreckliche Schmerzen, das weiÃt du genau, und ich will nicht mehr darüber reden. Ich kann keinem Namenlosen Irgendwas Gefolgschaft geloben. Das ist Scharlatanerie.«
»Du verurteilst dich selbst zu einem traurigen Leben«, sagte Nessarose.
»Damit bin ich längst vertraut, es wird mich also wenigstens nicht überrumpeln.« Elphaba warf ihre Serviette hin. »Ich kann hier nicht bleiben, Nessie. Ich kann dir nicht helfen. Im Winkus warten eigene Verpflichtungen auf mich, nach denen du dich nicht einmal erkundigt hast. Oh, natürlich, ich weiÃ, es hat eine Revolution stattgefunden, und du bist die neue Ministerpräsidentin oder so ähnlich, da hast du sicher das Recht, mit dir selbst beschäftigt zu sein. Also lade dir das Gewicht der Verantwortung auf oder wirf es ab, aber sorge dafür, dass es in jedem Fall deine freie Entscheidung ist und kein Ausrutscher der Geschichte, kein versehentliches Märtyrertum. Ich mache mir Sorgen um dich, aber ich kann nicht hierbleiben und dein Mädchen für alles werden.«
»Ich war einfach plump und undiplomatisch. Du kannst nicht erwarten, dass ich mich nach so kurzer Zeit schon wieder schwesterlich verhalten kann â«
»Du hattest die ganzen Jahre über Krott zum Ãben«, sagte Elphaba streng und stand auf.
»Und jetzt willst du einfach so fortgehen?« Auch Nessarose erhob sich in ihrer seltsam schlangenhaften Art. »Nach zwölf Jahren Trennung sind wir drei, vier Tage lang wieder zusammen, und das warâs dann?«
»Halte dich tapfer«, sagte Elphaba und küsste ihre Schwester auf beide Wangen. »Ich weiÃ, du wirst eine gute Eminenz sein, solange du das willst.«
»Ich werde für deine Seele beten«, versprach Nessarose.
»Ich werde auf deine Schuhe warten«, antwortete Elphaba.
Beim Hinausgehen überlegte Elphaba, ob sie ihrem Vater Lebewohl sagen sollte, und entschied sich dann dagegen. Sie hatte ihm alles gesagt, wozu sie sich durchringen konnte. Die beiden hatten sie auf typisch familiäre Art mit liebevoller Grausamkeit unter Druck gesetzt, und sie war restlos bedient.
7
Auf der Nordroute über die Madeleines, die sie einschlug, kam sie über den Kluchtsee. Sie beschloss, auf halber Strecke dort zu rasten, und stellte dabei mit Interesse fest, dass sie sich tatsächlich freute, zurückzukehren. Sie ging am Ufer des Sees entlang und hielt nach dem Haus Kiefernlust Ausschau, doch sie konnte es unter den vielen Ferienvillen nicht herausfinden, die seit jenem Besuch damals in ihrer Jugend aus dem Boden geschossen waren.
Aber was sie wahrnahm, war nicht die sichtbare Landschaft. Es war die Welt als solche. Was war es, was die Welt im Innersten zusammenhielt? Wie konnte Nessarose an den Namenlosen Gott glauben? Hinter jedem Aspekt der Welt kam ein anderer zum Vorschein. War es nicht das, womit sich Doktor Dillamond beschäftigt hatte? Er hatte sich eine andere wahre Grundlage der Welt vorgestellt, zu erhärten durch Beweise und Experimente, er hatte entdeckt, wie man zu ihr durchdrang. Aber sie war keine Visionärin. Elphaba konnte nicht unter die blauweià marmorierte Spiegelfläche des Sees blicken, hinter die moirierte Seide des Himmels.
Verschlossen blieb ihr der Rohstoff des Lebens: die Muskulatur der Engelsflügel, die Kapillarvorgänge bei der Einstellung eines scharfen Blicks. Verschlossen blieben ihr die sentimentalen Qualitäten des Empyreums: das Gute, falls denn der Namenlose Gott gut war. Verschlossen blieb ihr auch das Böse.
Wer war letztlich wem untertan? Lieà sich das jemals erkennen? Jede Kraft wirkte in Eintracht und Zwietracht, etwa wenn Kälte und Sonnenschein gemeinsam einen tödlichen Eisspeer schufen ⦠Warder Zauberer ein Scharlatan, ein Betrüger, ein Despot mit rein menschlichen Fähigkeiten und Unfähigkeiten? Kontrollierte er die Adeptinnen â Nessarose und Glinda und eine unbekannte Dritte, denn Elphaba konnte es gewiss nicht sein â, oder wurde ihm das nur von Madame Akaber eingeredet, um sein geltungssüchtiges Ich zu befriedigen, seine Gier nach Macht, sei sie nun scheinbar oder real?
Und Madame Akaber? Und Schackel? Gab es
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