Wickelkontakt - Roman
mir, das Jugendamt nur mal darauf anzusprechen. Es musste ja gar nichts weiter passieren. Manche Menschen machen mich so wütend! Am nächsten Tag erfuhr ich vom Jugendamt der Stadt Hamburg, dass es rund eine Million » Melanie Müllers« gab, die eine Tochter Michèle und einen Enkel Lorenzo hatten, und dass es wirklich noch nicht schlimm war, die Hand zu heben und dem Kind das Wort zu verbieten; die Dame bedankte sich dennoch freundlich für meinen Anruf, während ich mir vorkam wie der letzte Idiot.
Was mich weiter davon abhielt, bald wieder mit der Arbeit im Sender anzufangen, war, dass es plötzlich wie aus heiterem Himmel Nachrichtenmeldungen über tote Babys hagelte. Oder war das schon immer so gewesen? Babyleichen, wo das Auge hinsah. Kinderschänderprozesse. Vergewaltigungen schwangerer Frauen. Verbrühte Kinder. Verstorbene Kinder mit schlimmsten Frakturen, die in Kühlschränke gesteckt wurden. Ermordete Kinder. Fotos von blonden Mädchen mit Brille, von kleinen Jungs mit Grübchen, von Geschwistern, Einzelkindern, die im besten Falle spurlos verschwanden, im schlimmsten Fall von Polizeihunden im Wald gefunden wurden. Mir wurde jedes Mal schlecht, wenn ich die Agenturmeldungen dazu las. Während meiner Radiozeit hatte ich noch intensiveren Kontakt zu den Nachrichten gehabt, aber da wir natürlich auch beim Fernsehen direkt an der Quelle saßen, kann man auch nicht die Augen davor verschließen, wenn man als die » Frau mit der lustigsten Hochzeitspanne« angestellt ist. Auch spaßige Wetterthemen, (wo schmeckt das Eis in Hamburg am besten), Jahreshauptversammlungen der Wildbienenvereine oder Dackel, die gegen Elektrozäune pinkeln und tot umfallen, musste man sich aus all dem Nachrichtenwust ja erst mal herausfiltern. Außerdem schadete es ja nicht, wenn man sich die politischen Entwicklungen des Landes auch gelegentlich zu Gemüte führte. Und da landet man eben schnell auch bei den Kindermördergeschichten. Nur, für mich war dieser Boulevard-Zug erst mal abgefahren, und ich hatte auch keine Lust, den nächsten zu nehmen.
Ich zog die Spieluhr mit La-Le-Lu noch einmal auf und wischte mir eine Träne aus dem Augenwinkel. Jonas trat ins Zimmer. » Na, ihr beiden?«, sagte er und gab erst mir einen Kuss, dann meinem Bauch. Ich streckte ihm die Hand entgegen, wir mussten mich regelrecht aus dem Schaukelstuhl stemmen, wobei wir beide lachten. Dann versuchte ich, so gut es ging, ihn über meinen dicken Bauch hinweg in den Arm zu nehmen.
» Ich freu mich schon so«, sagte ich und sah ihm an, dass er das Gleiche dachte. Wir würden eine Familie sein, wir drei, und das war unbeschreiblich schön. Egal wie, wir würden das schon schaffen. Die Spieluhr gab ein paar letzte, schief klingende Töne von sich, als wir vor Majas Bettchen standen und Jonas beruhigend meinen Bauch streichelte.
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Wer hat eigentlich jemals gesagt, dass Reihenhäuser doof sind? Ich bestimmt nicht! Unser Haus hatte einhundertvierzig Quadratmeter, eine Gartenfläche von knapp achthundert, dazu Keller, Dachboden, Sauna und Kamin. Schon am ersten Weihnachtstag, als wir unser künftiges Domizil begutachtet hatten, hatte ich mich in das Haus verliebt. Nicht in die braunen Tapeten oder in den Linoleumfußboden, auch nicht in die dunkle Schrankwand, die Huberts uns großzügigerweise überlassen hatten, und erst recht nicht in die fast blinden Fenster– aber irgendwie hatte dieses Haus das gewisse Etwas, einen reizvollen Siebzigerjahre-Charme, den wir irgendwie freilegen und hegen und pflegen würden. Der dritte März, der Tag des Umzugs, stand unmittelbar bevor. In den letzten acht Wochen, den ganzen Januar und Februar über, hatten wir uns Stück für Stück von Huberts verstaubtem Mobiliar getrennt, mit meinen Schwiegereltern frisch tapeziert, die Fenster geputzt, den Keller ausgefegt und neu gestrichen, und so sah es wirklich langsam richtig schick aus. Noch drei Tage bis zum Umzug, und bis dahin musste ich noch etwas Farbe an die Wände im Wohnbereich bringen.
Ja, ich weiß, Reihenhäuser sind eigentlich nicht mein Traum, ich steh mehr auf rosa Villen mit Türmchen, aber zählen nicht eigentlich die inneren Werte? Maja kann sich hier herrlich austoben, die Treppen rauf- und runterkrabbeln, sich an der kleinen Mauer des Kamins hochziehen und ihre ersten Schritte auf der Terrasse üben. Natürlich müssen wir noch diverse Treppengitter, Kamingitter und Gartengitter anbringen, damit das Areal rundum gesichert war und ihr nichts passieren
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