Widersacher-Zyklus 01 - Das Kastell
hinteren Bereichen des Gebäudekomplexes. Die junge Frau bemerkte einige Soldaten, die dort mit Spitzhacken und Schaufeln auf die Steine einschlugen und eine weitere Wand einrissen. Sie arbeiteten mit fast verzweifelt wirkender Hingabe.
Warum ziehen sie nicht einfach ab? fragte sich Magda. Warum bleiben sie hier, obwohl sie davon ausgehen müssen, daß auch in der kommenden Nacht jemand sterben wird? Es ergab keinen Sinn.
Während sie auf ihren Vater wartete, dachte sie wieder an Glenn und an die vergangenen Stunden. Das hungrige Piepsen der kleinen Vögel im Nest vor dem Fenster hatte sie geweckt, und der Schmerz in ihrem Knie hatte sie an die Erlebnisse in der Feste erinnert. Der Rückweg durch den Nebel, das Gespräch mit dem rothaarigen Mann …
Magda dachte daran, wie sehr sie seine Berührungen genossen hatte. Der Kuß, den er zunächst so temperamentvoll erwidert hatte … Ihre Schamlosigkeit schockierte sie. Glücklicherweise hatte Glenn ihrem Verlangen standgehalten und sie abgewiesen. Nein, das stimmte nicht ganz. Er hatte sie nicht etwa abgewiesen, sondern auf einen späteren Zeitpunkt vertröstet.
Wann? dachte sie. Wann ist es soweit? Sie sehnte den Augenblick herbei – und gleichzeitig erschrak sie über sich selbst. Himmel was ist nur mit mir los? Sie war körperlich und emotional erschöpft gewesen: die beiden Soldaten, die sie zu vergewaltigen versucht hatten, die Rettung ausgerechnet durch Molasar, die schroffe Haltung ihres Vaters. All das hatte sie so sehr verwirrt, daß sie die Orientierung verloren hatte und sich zu Dingen hinreißen ließ, die ihrem eigentlichen Wesen widersprachen.
Nein, so etwas durfte sich nicht wiederholen!
Sie verdrängte die Gedanken an Glenn und ihre Gefühle und konzentrierte sich statt dessen auf die Worte, die sie an ihren Vater richten wollte. Er hatte sie zutiefst verletzt, als er sie fortgeschickt hatte.
Doch als Magda den alten Mann sah – ein Häufchen Elend im Rollstuhl, der von einem Soldaten über den Hof geschoben wurde –, vergaß sie ihren Ärger. Theodor Cuza sah schrecklich aus; er schien in den letzten Stunden um zwanzig Jahre gealtert zu sein.
Wie sehr er gelitten hat! Vom eigenen Körper verraten, von den ehemaligen Freunden im Stich gelassen – und nun die ständige Bedrohung durch die Nazis. Ich kann nicht auch noch Stellung gegen ihn beziehen.
Der Deutsche ließ den Rollstuhl dicht vor der Brücke stehen und kehrte wortlos in die Feste zurück. Magda nahm seine Stelle ein. Sie waren erst auf halbem Wege zur anderen Seite der Schlucht, als der mehr denn je greisenhaft wirkende Mann die Hand hob.
»Halt hier, Magda.«
»Was ist denn?« Sie wollte den Weg fortsetzen, weil ihr das Kastell noch immer viel zu nahe war.
»In der vergangenen Nacht konnte ich keine Ruhe finden.«
»Haben dich die Deutschen nicht schlafen lassen?« Von einem Augenblick zum anderen war ihr Beschützerinstinkt geweckt. Rasch ging sie um den Rollstuhl herum, hockte sich davor nieder und griff behutsam nach den Händen ihres Vaters. »Haben sie dir irgend etwas … angetan?«
Aus geröteten Augen sah er sie an. »Nein, das nicht. Aber manchmal fügen Worte weitaus größere Schmerzen zu als die grausamsten Folterinstrumente.«
»Was meinst du damit?«
Der alte Mann sprach in einem Zigeunerdialekt, den sie beide gut kannten. »Hör mir gut zu, Magda. Ich weiß nicht, warum die SS hier ist. Kämpffer will in einigen Tagen nach Ploeşti weiter, um dort ein Vernichtungslager für Juden einzurichten.«
Magda spürte, wie Kälte ihr Herz umklammerte. »O Gott! Das ist nicht wahr! Es kann nicht wahr sein. Die Regierung ließe niemals zu, daß die Nazis kommen und …«
» Sie sind bereits hier! Du hast sicher davon gehört, daß die Deutschen im Bereich der Raffinerie von Ploeşti Befestigungsanlagen erbaut haben; sie bilden dort rumänische Soldaten aus. Und vielleicht bringen sie ihnen auch bei, wie man rumänische Juden umbringt. Der Sturmbannführer scheint in diesem Zusammenhang bereits große Erfahrungen gesammelt zu haben. Er liebt seine Arbeit. Bestimmt gibt er einen guten Lehrmeister ab.«
Plötzlich empfand Magda wieder Entsetzen. Sie erinnerte sich an Bukarest, die ersten Gerüchte über die Konzentrationslager und das furchtbare Schicksal der polnischen Juden. Zuerst hatte sie nicht daran glauben wollen, aber schließlich konnte sie die schreckliche Gewißheit nicht länger leugnen.
»Bei Ploeşti befindet sich ein wichtiger Eisenbahnknotenpunkt«,
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