Widersacher-Zyklus 01 - Das Kastell
aber keine Angst. An seinem Schulterriemen hing eine Maschinenpistole, und er wußte auch, wie man mit einer solchen Waffe umging. Ganz gleich, wer für Grünstatts Tod die Verantwortung trug: Gegen ihn hatte der Unbekannte keine Chance. Trotzdem wünschte sich Rudi mehr Licht im Hof. Hier und dort leuchteten einige Glühbirnen, aber sie erhellten nur einen Teil des Platzes. Der Rest blieb finster, was insbesondere auf die beiden hinteren Ecken zutraf.
Eine recht kühle Nacht. Und schlimmer noch: Nebel kroch über das verriegelte Tor, zog in trägen Schwaden heran und schuf eine dünne Feuchtigkeitsschicht auf dem Helm des Soldaten.
Rudi marschierte weiter. Er setzte langsam und regelmäßig einen Fuß vor den anderen, während er sich der nördlichen Ecke näherte. Die Dunkelheit dort wirkte schwärzer als noch vor wenigen Minuten. Schreck kniff mißtrauisch die Augen zusammen. Es ist der Kontrast zwischen dem Licht der Glühbirnen und der Nacht, dachte er. Nichts, wovor man sich fürchten müßte.
Und doch … Er zögerte und verspürte den Wunsch, sich umzudrehen und die Beine in die Hand zu nehmen – zu laufen, möglichst weit weg.
Rudi rief sich zur Ordnung, straffte die Schultern und ging weiter. Nur ein besonders dunkler Schatten, weiter nichts.
Er war ein erwachsener Mann und zu alt, um vor der Finsternis Angst zu haben. Entschlossen setzte er den Weg fort – eine Armeslänge von der Mauer entfernt – und erreichte die schwarze Ecke …
Plötzlich verlor er die Orientierung. Eiskalte, saugende Dunkelheit schloß sich um ihn. Der Gefreite wirbelte um die eigene Achse, um auf den Hof zurückzukehren, aber er schien überhaupt nicht mehr zu existieren. Weit und breit sah er nichts als Schwärze.
Er begann zu zittern und nahm die Maschinenpistole in die Hand. Trotz der Kälte brach ihm der Schweiß aus allen Poren. Vielleicht hat Werner das Licht ausgeschaltet, um mir einen Schrecken einzujagen, dachte er, aber seine Wahrnehmung zerschmetterte diese Hoffnung. Die Finsternis war zu absolut: Sie flutete ihm entgegen, hüllte ihn in einen undurchdringlichen Kokon und bohrte sich in seine Seele.
Irgend jemand kam näher. Rudi konnte ihn weder sehen noch hören, und doch spürte er die Präsenz.
»Werner?« fragte er leise und versuchte, seine Stimme möglichst fest klingen zu lassen. »Bist du das, Werner?«
Einen Sekundenbruchteil später begriff Rudi, daß es sich nicht um seinen Kameraden handelte, nicht einmal um einen Menschen. Irgend etwas näherte sich.
Ein seilartiges Objekt schlang sich ihm um den Hals, und von einem Augenblick zum anderen wurde der Soldat von den Beinen gerissen. Er begann zu schreien und betätigte den Abzug der Maschinenpistole. Dann beendete die Finsternis den Krieg für ihn.
Das Rattern einer automatischen Waffe riß Wörmann aus dem Schlaf. Er sprang mit einem Satz auf, stürmte ans Fenster und starrte auf den Hof. Einer der Wächter lief auf die hintere Mauer zu. Wo ist der andere? Verdammt, ich habe dort unten zwei Soldaten postiert! Er wollte sich gerade umdrehen und die Treppe hinunterlaufen, als er etwas an der Wand bemerkte. Ein blasses Bündel, das fast aussah wie …
Ein Körper, der mit dem Kopf nach unten hing. Ein nackter Leib, der an einem Seil baumelte. Selbst vom Turmfenster aus konnte Wörmann das Blut erkennen, das aus dem breiten Riß in der Kehle tropfte. Einer seiner Soldaten – wachsam und mit einer Maschinenpistole bewaffnet – war wie ein Stück Vieh geschlachtet worden.
Die Furcht, die bisher nur an den Gedanken des Majors genagt hatte, umklammerte ihn mit einem eisigen, unerbittlichen Griff.
Freitag, 25. April
Drei Leichen in der Kammer unter dem Keller. Die Garnison in Ploeşti war vom letzten Todesfall unterrichtet worden, doch bisher stand ein Kommentar aus.
Während des Tages herrschte hektische Aktivität auf dem Hof, doch die energische Arbeit führte nur zu spärlichen Ergebnissen. Wörmann beschloß, seinen Leuten zu befehlen, in der kommenden Nacht paarweise Wache zu halten. Es erschien ihm unglaublich, daß irgendwelche Partisanen einen aufmerksamen, erfahrenen Soldaten überraschen konnten, aber genau das war geschehen. Wenn jeweils zwei Männer zusammenblieben, würde sich so etwas nicht wiederholen.
Am Nachmittag kehrte er zu seiner Staffelei zurück, und das Malen befreite ihn von der bedrückenden Atmosphäre in der Feste. Er fügte dem Grau der Wand dunklere Flecken hinzu und erweiterte die Darstellung des
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