Widersacher-Zyklus 01 - Das Kastell
»Meiner Ansicht nach gibt es nur wenige Regionen auf dieser Welt, die so faszinierend sind wie der Dinu-Paß. Aber wie Sie sehen können, geht es mir derzeit nicht besonders gut.«
Die Soldaten wechselten einen kurzen Blick und starrten dann unschlüssig auf den Mann im Rollstuhl herab. Magda wußte, was ihnen jetzt durch den Kopf ging. Ihr Vater wirk te wie jemand, der bereits mit einem Bein im Grab stand: Fah le, fast durchsichtige Haut spannte sich über hervorstehenden Knochen, und spärliches schneeweißes Haar bedeckte seine Schädeldecke. Er sah schwach und gebrechlich aus – wie jemand, der längst seinen achtzigsten Geburtstag gefeiert hatte. Und doch behaupteten die Papiere, er sei erst sechsundfünfzig.
»Trotzdem müssen Sie mitkommen«, brummte einer der Eisernen Gardisten.
»Unmöglich!« entfuhr es Magda. »Er ist nicht reisefähig. Er würde unterwegs sterben!«
Die beiden Uniformierten zögerten, und es fiel Magda wieder nicht schwer, ihre Gedanken zu erraten. Sie hatten den Auftrag bekommen, Professor Cuza zu finden und ihn so schnell wie möglich zum Dinu-Paß zu bringen – natürlich lebend. Aber der Mann im Rollstuhl erweckte den Eindruck, als könne er es nicht einmal bis zum Bahnhof schaffen.
»Wenn sich meine Tochter um mich kümmern darf«, sag te Theodor, »steht der Reise vielleicht nichts im Wege.«
»Vater!« Fassungslos sah Magda auf ihn herab.
»Diese Herren werden nicht ohne mich gehen.« Er hob den Kopf ein wenig. »Und ich brauche deine Hilfe.«
Magda holte tief Luft. »Ja, Vater.« Sie wußte nicht, was diesen plötzlichen Entschluß bewirkt hatte, aber es blieb ihr gar nichts anderes übrig, als sich seinem Willen zu fügen.
Der alte Mann musterte sie. »Ist dir klar, in welche Richtung wir reisen werden?«
Er versuchte, ihr irgend etwas mitzuteilen – sie an etwas zu erinnern. Es dauerte einige Sekunden, bis sich Magda an ihren Traum und den halb gepackten Koffer unterm Bett erinnerte.
»Nach Norden …«
Die beiden Angehörigen der Eisernen Garde saßen auf der gegenüberliegenden Seite des Waggons und unterhielten sich mit gedämpften Stimmen – wenn sie nicht gerade versuchten, Magda mit ihren Blicken auszuziehen. Theodor Cuza hatte am Fenster Platz genommen. Er trug nun zwei Paar Handschuhe – Leder über Wolle. Sie hatten Bukarest bereits verlassen. Eine knapp neunzig Kilometer lange Reise lag nun vor ihnen: sechzig bis nach Ploeşti, dann noch einmal knapp dreißig bis nach Campina. Anschließend ging die Fahrt mit dem Wagen weiter. Magda hoffte inständig, daß die Belastungen für ihren Vater nicht zu groß wurden.
»Begreifst du, warum ich auf deiner Gesellschaft bestanden habe?« fragte er leise.
»Nein«, antwortete die junge Frau. »Ich sehe absolut keinen Sinn darin, daß wir Bukarest verlassen haben. Du hättest dich nicht fügen müssen. Den Vorgesetzten der beiden Soldaten wäre sofort klar gewesen, daß du nicht reisefähig bist.«
»Ich bezweifle, ob sie so etwas wie menschliches Mitgefühl kennen. Außerdem täuscht der Eindruck: Ich fühle mich nicht annähernd so schwach, wie es den Anschein haben mag. Ich bin keine wandelnde Leiche.«
»Vater!«
»Komm schon, Magda. Wir müssen uns der Wirklichkeit stellen; es hat keinen Sinn, sich etwas vorzumachen. Als die Ärzte mir sagten, daß ich an Arthritis deformans leide, wußte ich sofort, daß sie sich irrten. Und ich behielt recht: Ich habe eine wesentlich schlimmere Krankheit. Ich hatte gar keine andere Wahl, als diese Erkenntnis hinzunehmen. Es gibt keine Hoffnung, und mir bleibt nur noch wenig Zeit. Ich muß sie so gut wie möglich nutzen.«
»Das ist noch lange kein Grund, dich zum Dinu-Paß bringen zu lassen.«
»Warum denn nicht? Die Südkarpaten gefallen mir. Und wenn man bald sterben muß, ist ein Ort so gut wie jeder andere. Außerdem hätte man mich bestimmt nicht einfach zu Hause gelassen. Aus irgendeinem Grund braucht man mich.« Theodor Cuza wandte den Blick vom Fenster ab und sah seine Tochter an. »Um auf meine ursprüngliche Frage zurückzukommen: Weißt du, warum ich den Soldaten gesagt habe, daß ich nicht auf deine Hilfe verzichten kann?«
Magda überlegte. Es war typisch für ihren Vater, den Lehrer zu spielen oder in die Rolle eines Sokrates zu schlüpfen.
»Du brauchst mich als Krankenschwester«, erwiderte sie nach einer Weile. »Wozu sonst?« Es klang ein wenig zu bitter.
»Ja.« Der alte Mann nickte bedächtig und ließ seine Tochter nicht aus den Augen.
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