Widersacher-Zyklus 01 - Das Kastell
anschließend dachte er gründlich nach. Zunächst hielt er die beiden Juden aus Bukarest für ein eher mitleiderweckendes Paar – die Tochter war an den Vater gebunden, der Vater an seinen Rollstuhl. Doch während er sie beobachtete und sprechen hörte, nahm er eine subtile Stärke in ihnen wahr. Um so besser. Sie brauchten Kraft und Durchhaltevermögen, um an diesem Ort zu überleben. Wenn sich bewaffnete Soldaten nicht gegen das Unheil wehren konnten – welche Chancen hatten dann eine hilflose Frau und ein Krüppel?
Plötzlich spürte er einen Blick auf sich ruhen. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, und seine Nackenhaare richteten sich auf. Irgend etwas starrte ihn an.
Wörmann hob den Kopf und spähte über die Treppe, die sich in der Dunkelheit der Nacht verlor. Niemand verbarg sich in den Schatten. Unsicher trat er durch den Torbogen, der Zugang zum Hof gewährte. Draußen strahlten alle Glühbirnen, und die Wächter patrouillierten jeweils zu zweit.
Doch das Unbehagen wich nicht.
Der Major wandte sich wieder den Stufen zu und versuchte, jenes düstere Gefühl abzuschütteln. Er hoffte, daß es von ihm wich, wenn er den Torbogen verließ. Und das war tatsächlich der Fall. Als er zu seinem Quartier ging, verflüchtigte sich der Eindruck, beobachtet zu werden.
Trotzdem blieb die Angst, die in jeder Nacht an seiner Seele nagte – die schreckliche Gewißheit, daß die Finsternis ein weiteres Opfer verlangte.
Sturmbannführer Kämpffer stand in der dunklen Öffnung des Korridors, der zum hinteren Teil des Kastells führte. Er sah, daß Wörmann am Tor des Wachturms stehenblieb, sich dann umdrehte und die lange Treppe hinaufging. Der SS-Offizier war versucht, ihm zu folgen und im dritten Stock des Turms an die Tür zu klopfen.
Er wollte in dieser Nacht nicht allein bleiben. Hinter ihm erstreckte sich die Treppe zu seinem eigenen Quartier. Kämpffer schauderte heftig, als er an die beiden toten Soldaten dachte, die vor rund zwanzig Stunden zu ihm marschiert, über ihm zusammengesunken waren. Der Gedanke, in das Zimmer zurückzukehren, erfüllte ihn mit Entsetzen.
Wörmann war der einzige, der ihm helfen konnte. Als Offizier hielt es Kämpffer für unter seiner Würde, sich an die Soldaten zu wenden. Noch absurder erschien es ihm, die Gesellschaft der Juden zu suchen.
Nur Wörmann kam in Frage, ein Offizier. Es ist nur angemessen, daß wir unsere freie Zeit gemeinsam verbringen. Kämpffer setzte sich in Bewegung und lief über den Hof. Doch schon nach wenigen Schritten blieb er stehen. Wörmann erlaubte ihm sicher nicht, seine Unterkunft zu betreten. Sicher bot er ihm kein Glas Schnaps an. Er haßte die SS und die Partei und verachtete alles, was mit den Nationalso zialisten in Zusammenhang stand. Warum? Kämpffer fand eine solche Einstellung zumindest erstaunlich. Wörmann ist Arier. Er hat nichts von der SS zu befürchten. Warum lehnt er Leute wie mich ab?
Der Sturmbannführer drehte um und ging in den langen Korridor zurück. Nein, es gab keine Möglichkeit, die Beziehungen zwischen ihm und Wörmann zu verbessern. Der Kerl war einfach zu stur und zu engstirnig, um die Realitäten der Neuen Ordnung zu akzeptieren. Mit dieser Haltung sprach er selbst das Urteil über sich. Ich sollte Abstand zu ihm halten.
Dennoch … Kämpffer brauchte den Zuspruch eines Freundes; er fühlte sich einsamer als jemals zuvor.
Kalte Furcht umklammerte sein Herz, als er sich seinem Quartier näherte und überlegte, welches Grauen ihn in dieser Nacht erwartete.
Das Feuer erfüllte den Raum nicht nur mit angenehmer Wärme, es verdrängte auch die Schatten aus den Ecken. Magda breitete eine Decke neben dem Kamin aus, doch ihr Vater achtete gar nicht darauf. Schon seit Jahren hatte sie ihn nicht mehr so aufgeregt erlebt. Das gräßliche Leiden saugte die Kraft aus seinem Körper und machte ihn immer schwächer. Er schlief die meiste Zeit über und war nur noch wenige Stunden am Tag wach.
Aber jetzt schien er wie verwandelt zu sein. Er blätterte mit geradezu fanatischem Interesse in den Büchern, und Magda ahnte, daß dieser bemerkenswert vitale Zustand nicht von langer Dauer sein konnte. Irgendwann würde ihn die Erschöpfung übermannen.
Trotzdem forderte sie ihn nicht auf, sich zur Ruhe zu le gen. Sie klammerte sich an die Hoffnung, daß ihr Vater gesund werden würde, obwohl alle Ärzte behauptet hatten, daß die Sklerodermie unheilbar war. Sie kannte seine Depressionen, sah vor ihrem inneren Auge,
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