Widersacher-Zyklus 01 - Das Kastell
daß sie sich auf der anderen Seite des Kamins befand. Entschlossen stemmte sie sich dem Zorn des Sturms entgegen, trat vor den Rollstuhl und schob ihn in Richtung Ausgang. Wenn es mir gelingt, den Hof zu erreichen … Dort sind wir sicher. Vergeblich fragte sie sich, worauf sich diese Überzeugung gründete. Es spielte auch keine Rolle: Wenn sie in dem Raum blieb, forderte sie den Tod geradezu heraus, daß er ihren Namen nannte und sie mitnahm in die Schwärze …
Die Räder des Rollstuhls knarrten über den steinernen Boden. Magda schob ihn knapp zwei Meter weit, bevor sie einen festen Widerstand spürte. Panik erfaßte sie. Irgend etwas weigerte sich, sie passieren zu lassen. Nein, keine Wand, sondern ein Wesen, das hinter dem Stuhl stand und ihn festhielt.
Für den Bruchteil einer Sekunde zeichneten sich Konturen in der Finsternis ab, die Umrisse eines blassen, fratzenhaften Gesichts, das auf sie herabstarrte. Dann verschwand es wieder.
Magdas Herz klopfte bis zum Hals, und ihre Hände waren so feucht, daß sie an den hölzernen Armlehnen des Sessels abglitten. Ich träume! fuhr es ihr durch den Sinn. Das ist die einzige Erklärung: ein Alptraum, eine grauenhafte Vision! Aber ihr Körper spürte, daß es sich um die Wirklichkeit handelte. Sie starrte auf das Gesicht ihres Vaters und bemerkte, daß sich ihr eigenes Entsetzen in seinen faltigen Zügen widerspiegelte.
»Weiter!« stieß er hervor. »Schieb mich weiter!«
»Es geht nicht!«
Der alte Mann drehte den Kopf, um zu sehen, was ihren Weg blockierte, ließ ihn jedoch wieder sinken, als ein heftiger Schmerz in ihm tobte. »Rasch, zum Kamin!«
Magda änderte die Richtung, lehnte sich zurück und zog mit ganzer Kraft. Als der Stuhl zu rollen begann, fühlte sie, daß sich etwas Eisiges um ihren Oberarm schloß.
Der Schrei blieb ihr in der Kehle stecken; nur ein leises Wimmern löste sich von den Lippen. Die Kälte in ihrem Arm breitete sich aus und erfaßte auch die Schultern. Sie stach mit eisigen Nadeln nach ihrem Herzen. Magda sah an sich herab und bemerkte eine Hand dicht über ihrem Ellenbogen. Die Finger waren lang und dick und endeten in klauenartigen Nägeln. Dunkles Haar wuchs auf dem Handrücken bis zum Gelenk, das mit der Dunkelheit zu verschmelzen schien.
Die Berührung verursachte einen Ekel, den Magda in dieser Intensität noch nie zuvor empfunden hatte, nicht einmal Ratten gegenüber. Magda hob den Kopf und hielt in der Finsternis nach einem Gesicht Ausschau. Als sie nichts weiter sah als nur konturloses Nichts, ließ sie den Rollstuhl los und versuchte, sich aus dem festen Griff zu befreien. Ihre Schuhe kratzten über den Boden, während sie sich hin und her wand, doch die Hand löste sich nicht von ihrem Arm.
Nach einer Weile veränderte sich etwas in der Schwärze: Ein bleicher, ovaler Schemen formte sich, nur wenige Zentimeter entfernt. Ein Gesicht … Die Stirn breit; langes, strähniges Haar, wie Schlangen, die von den Schläfen bau melten; farblose Haut, eingefallene Wangen; die Nase ha kenförmig. Dünne Lippen entblößten lange, gelbe Fangzähne. Doch das eigentliche Grauen ging von den Augen aus.
Sie waren groß und rund, kalt und kristallin, die Pupillen wie dunkle Tore, die in eine andere Welt führten, in einen Kosmos ohne Vernunft und Gefühl, in dem es nur Platz gab für …
… Wahnsinn. Er wirkte so verlockend, bot Sicherheit und Ruhe. Wie angenehm, jene Tore zu durchschreiten und sich dem Dunkel dahinter hinzugeben …
Nein!
Magda kämpfte gegen dieses Gefühl an und versuchte, der Schwärze standzuhalten. Und doch … Warum sich wehren? Das Leben war nur ein Synonym für Elend und Leid, für einen Kampf, der letztendlich in einer Niederlage enden mußte. Was hatte das für einen Sinn?
Die junge Frau spürte einen stärker werdenden Sog, der von den Augen des Wesens ausging und ihren Geist erfaßte. Lust irrlichterte in den dunklen Pupillen, Lust auf sie. Aber die Gier beschränkte sich nicht aufs Sexuelle, sie betraf ihr ganzes Sein. Langsam wandte sich Magda den beiden Toren in die andere Welt zu. Ach, es mußte herrlich sein, sie zu passieren und dem Druck nachzugeben …
… Ein verborgener Teil ihres Ich lehnte es ab, einfach aufzugeben, und leistete weiterhin entschlossenen Widerstand. Müdigkeit begann sie zu lähmen, und die Sehnsucht nach Ruhe und Frieden wurde immer intensiver …
Ein Geräusch … Wie Musik … Nein, keine Melodie. Ein Laut in ihrer mentalen Sphäre, der all das zum Ausdruck brachte,
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