Widersacher-Zyklus 01 - Das Kastell
etwas nennt man Brand oder Gangrän. Aus diesem Grund trage ich ständig Handschuhe, selbst im Bett.« Er sah sich um. »Von mir aus können wir jetzt weiter.«
Magda zitterte im kühlen Luftstrom. »Ich fürchte, dort unten ist es viel zu kalt für dich, Vater.«
»Sie irren sich, wenn Sie glauben, wir brächten die Leichen für Sie hinauf«, zischte Kämpffer. Er gab den beiden SS-Soldaten ein Zeichen, und daraufhin traten die Männer vor, hoben den Rollstuhl an und trugen ihn durch die große Wandöffnung. Wörmann griff nach einer in der Nähe stehenden Kerosinlampe, zündete sie an und ging voraus. Kämpffer bildete den Abschluß. Widerstrebend setzte sich Magda in Bewegung. Sie hielt sich dicht hinter ihrem Vater und schauderte bei der Vorstellung, daß einer der schwarzgekleideten Männer auf den schlüpfrigen Stufen ausrutschen und den Rollstuhl fallen lassen könnte. Sie entspannte sich erst, als die Räder wieder über den Boden knirschten.
Magda blieb an der Treppe. Sie konnte es nicht über sich bringen, die Männer zu den Leichen zu begleiten. Sie beobachtete die Offiziere und glaubte zu erkennen, daß Wörmann nervös zu werden begann. Er murmelte etwas, bückte sich und zog die Laken über den Toten zurecht. Räumlichkeiten unter dem eigentlichen Keller des Kastells … Im Verlauf der Jahre hatte sie mehrmals die Feste besucht – zusammen mit ihrem Vater –, ohne zu ahnen, daß es im Fundament eine große Kammer gab. Geistesabwesend rieb sie die taub werdenden Hände aneinander und versuchte sie zu wärmen.
Während die Männer leise miteinander sprachen, sah sich Magda unruhig um und hielt nach Anzeichen für Ratten Ausschau. Die Nagetiere widerten sie an. Sie wußte, daß es sich um eine übertriebene Reaktion handelte, eine regelrech te Phobie, aber das half ihr nicht viel …
Glücklicherweise sah sie nirgends einen der abscheulichen pelzigen Körper. Erleichtert richtete sie ihren Blick wieder auf die Deutschen. Wörmann hob die Laken nacheinander, entblößte Kopf und Schultern jeder Leiche. Magda war dankbar dafür, sich das nicht anschauen zu müssen, was sich nun den Blicken ihres Vaters darbot.
Schließlich kehrten die Männer zur Treppe zurück, und Magda vernahm die Stimme ihres Vaters.
»… deutet eigentlich nichts auf einen rituellen Tod hin. Mit Ausnahme des Geköpften scheinen alle Soldaten gestorben zu sein, weil die wichtigsten Blutgefäße im Hals zerrissen wurden. Meiner Ansicht nach sind die Wunden nicht von menschlichen oder tierischen Zähnen verursacht worden, und ein scharfer Gegenstand, zum Beispiel ein Messer, kommt ebensowenig in Frage. Irgend etwas hat die Kehlen zerfetzt. «
Der Sturmbannführer klang bedrohlich, als er erwiderte: »Einmal mehr verlieren Sie viele Worte, ohne uns neue Erkenntnisse zu vermitteln!«
»Sie geben mir nur wenige Anhaltspunkte. Ich brauche weitere Informationen, bevor ich irgendwelche Schlüsse ziehen kann.«
Kämpffer wandte sich wortlos von dem alten Mann ab, und Wörmann schnippte mit den Fingern.
»Die Worte an der Wand! Die mit Blut geschriebenen Zeichen, die niemand versteht.«
Vater Cuzas Augen blitzten. »Zeigen Sie sie mir!«
Erneut hoben die beiden SS-Soldaten den Rollstuhl an, und Magda folgte den Männern zum Hof. Von dort aus gingen sie in den rückwärtigen Teil des Kastells weiter und gelangten kurz darauf in einen Tunnel, der an massivem Fels endete. Irgend jemand hatte rotbraune Buchstaben an die Mauer geschmiert.
»Haben Sie eine Ahnung, was diese Worte bedeuten könnten?« fragte Wörmann.
Der Professor nickte. »Ja«, sagte er leise und zögerte. Er starrte wie gebannt auf das geronnene Blut.
»Nun?« zischte Kämpffer.
Der Sturmbannführer haßte es offenbar, auf die Hilfe eines Juden angewiesen zu sein. Magda wußte, daß die Unge duld des SS-Offiziers eine erhebliche Gefahr für sie darstell te und hoffte inständig, daß ihr Vater vorsichtig genug war, ihn nicht zu provozieren.
»Die Botschaft heißt: Fremde, verlaßt mein Heim. Ein Imperativ.« Seine Stimme klang wie aus weiter Ferne; ir gendein Aspekt der Schrift schien ihm Unbehagen zu bereiten.
Kämpffer klopfte auf sein Waffenholster. »Aha! Also stecken doch politische Motive hinter den Todesfällen!«
»Vielleicht«, sagte der Professor langsam. »Aber ich bezweifle es. Die Warnung, Aufforderung oder wie auch immer Sie die Mitteilung dort nennen wollen … Sie ist in Urslawisch geschrieben – in einer toten Sprache. So tot wie Latein. Solche
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