Widersacher-Zyklus 03 - Die Gabe
Dunkelheit.
Endlich ließ der Sturm nach. Die Blitze waren verblasst, und der Donner rollte nur noch leise, wie das Rumoren eines überfressenen Magens.
Gott sei Dank!, dachte Sylvia. Wenn jetzt noch der Strom wiederkommt …
Polyphem begann zu bellen.
Sylvia ging zum Fenster, das zur Auffahrt gerichtet war, sah aber keinen Wagen. Sie sah auf ihre Uhr: es war 22:40. Drei Minuten vor der Flut. Ein Frösteln überkam sie. Irgendjemand war da draußen in der Dunkelheit, bewegte sich auf das Haus zu. Wenn sie doch nur die Lichter im Garten einschalten könnte. Zumindest würde sie ihn dann sehen. Obwohl es eigentlich keine Rolle spielte. Sie konnte seine Gegenwart spüren.
Alan kam.
Aber wie war das möglich? Wie konnte er die Strecke von Manhattan bis hierher bewältigt haben? Es schien unvorstellbar. Trotzdem war er da draußen. Dessen war sie sich sicher.
Mit einer Taschenlampe bewaffnet nahm sie Polyphem am Halsband und führte ihn in die Waschküche, wo sie ihn einsperrte. Als sie zur Bibliothek ging, hörte sie, wie die Haustür ging. Sie hielt eine Minute inne, lauschte auf ihr Herz, das dumpf in ihrer Brust pochte. Sie hatte gedacht, sie hätte die Tür abgeschlossen! Was war, wenn es nicht Alan war? Was war, wenn es ein Einbrecher war – oder noch schlimmer?
Sie schaltete die Taschenlampe aus, wappnete sich und schlich leise durch den Flur, bis sie zum vorderen Foyer gelangte. Ein entfernter Blitz zuckte durch die offen stehende Haustür, spiegelte nasse Fußspuren auf dem Boden und erhellte eine dunkle Gestalt, die die Treppe hinaufstieg.
»Alan?«
Die Gestalt antwortete nicht, sondern stieg weiter die Stufen hoch. Sie schien zu hinken und ging langsam, immer nur eine Stufe auf einmal. Ba hatte gesagt, dass Alan beim Verlassen von Chacs Haus gehinkt hatte. Er musste es sein.
Sie knipste die Taschenlampe an und richtete den Strahl auf sein Gesicht.
Ja, es war Alan, aber nicht der Alan, den sie kannte. Sein Gesicht war eingefallen, seine Augen leer. Er war verändert.
»Alan – geh nicht da rauf.«
Alan blickte in ihre Richtung und blinzelte in den Lichtstrahl.
»Jeffy.« Sie erkannte seine Stimme kaum wieder.
Lock ihn von da weg, sagte sie sich. Lenk ihn ab. Er ist nicht ganz bei sich.
Sie richtete den Lichtstrahl auf ihr Gesicht. »Ich bin es – Sylvia. Geh jetzt bitte nicht zu Jeffy. Er schläft. Du wirst ihn nur stören. Vielleicht wirst du ihn ängstigen.
»Jeffy«, war Alans einzige Antwort.
Und dann war der Strom wieder da.
Sylvia blieb die Luft weg, als sie Alan zur Gänze sah. Er sah schrecklich aus. Nass, schmutzig, das Haar von Wind und Regen verfilzt und zerzaust, und seine Augen – es waren seine und auch wieder nicht.
Er stieg weiter mit seinem schrecklich langsamen Schritt die Treppe hinauf und bewegte sich dabei wie ein Automat.
Sylvia ging ihm nach. Angst und Mitleid kämpften in ihr miteinander. »Geh nicht, Alan. Ich will nicht, dass du das tust. Zumindest jetzt nicht.«
Er hatte nun die Hälfte der Stufen geschafft und sah sich nicht um. Er sagte einfach: »Jeffy.«
» Nein, Alan!« Sie rannte die Treppe hoch, bis sie neben ihm stand. »Ich will nicht, dass du so zu ihm gehst! Nicht in dem Zustand, in dem du dich befindest.«
Die Lichter flackerten, gingen für eine Sekunde aus und dann wieder an.
»Jeffy!«
Die Furcht übermannte sie jetzt. Es bestand kein Zweifel, dass Alan völlig neben der Spur war. In der Ferne hörte sie eine Sirene. Wenn es die Polizei war, wünschte sie sich, sie würden hierherkommen, aber jetzt war es zu spät, sie zu rufen. Sie konnte Alan nicht zu Jeffy lassen. Sie musste ihn selbst aufhalten.
Sie ergriff seinen Arm. »Alan. Ich verlange von dir –«
Mit einem krampfhaften Zucken seines linken Armes schubste er sie mit dem Ellbogen zur Seite. Sie schlug mit dem Rücken gegen das Treppengeländer. Sylvia stöhnte vor Schmerz auf, aber noch mehr schmerzte es sie, dass Alan sich nicht einmal umschaute, um zu sehen, was er getan hatte.
Die Sirene wurde nun lauter, fast als ob sie direkt auf das Haus zukäme. Sylvia hastete vor Alan auf den obersten Treppenabsatz, stellte sich ihm entgegen und versperrte seinen Weg.
»Halt, Alan! Bleib stehen!«
Aber er wollte weiter und versuchte, sich links von ihr vorbeizuquetschen. Sie klammerte sich fester an das Treppengeländer und wollte ihn nicht vorbeilassen. Sie stand direkt vor ihm, und konnte die Entschlossenheit in seinen Augen erkennen. Er presste sich gegen sie mit einer
Weitere Kostenlose Bücher