Widersacher-Zyklus 03 - Die Gabe
leuchteten hell aus den tief liegenden Augenhöhlen. »Wie fühlst du dich, Laune?«
»Ganz gut, glaub ich«, sagte sie mit piepsiger Stimme.
»Das sagt sie immer!«, erwiderte die Mutter. »Aber nachts höre ich sie weinen. Sie hat immerzu Schmerzen, aber sie beklagt sich nicht. Sie ist das tapferste kleine Ding, das man sich vorstellen kann. Sag dem Mann die Wahrheit, Laune. Wo tut es weh?«
Laune zuckte die Schultern. »Überall.« Sie presste die Hände auf ihre schrecklich dünnen Oberschenkel. »Besonders in den Knochen. Sie tun furchtbar weh.«
Knochenschmerzen, dachte Alan. Typisch für Leukämie. Er bemerkte die Narben auf ihrer Kopfhaut, wo die Kanülen für die Chemotherapie angelegt worden waren. Sie hatte das ganze Programm mitgemacht, das war schon mal sicher.
»Dann wollen wir uns dich mal ansehen, Laune.«
Er legte seine Hände auf beide Seiten ihres Kopfes und befahl all diesen verruchten kleinen bösartigen Zellen in ihrem Knochenmark zu schrumpfen und abzusterben.
Nichts passierte. Alan fühlte nichts und offensichtlich auch Laune nicht.
Panik überkam Alan. Hatte er sich schon wieder verrechnet?
»Entschuldigen Sie mich einen Augenblick«, sagte er zu der Mutter und ging in sein angrenzendes Büro. Er kontrollierte die Daten. All seine Berechnungen schienen richtig. Die Stunde der Macht hätte um 4:00 Uhr einsetzen sollen und jetzt war es bereits 4:05 Uhr. Was hatte er falsch gemacht?
Oder hatte er das gar nicht? Er hatte die Gabe nie auf die Minute genau vorhersehen können. Sie kam immer, aber seine Berechnungen lagen in der Vergangenheit bis zu fünfzehn Minuten daneben. In der Hoffnung, der Fehlschlag von ein paar Augenblicken sei nur auf den Spielraum in seinen Tabellen zurückzuführen, ging er in den Behandlungsraum zurück. Wieder legte er Laurie die Hand auf den Kopf.
Das Gefühl der Ekstase kam über ihn und damit auch Lauries erschreckter Aufschrei.
»Was ist los, mein Schatz?«, fragte die Mutter. Wie ein Blitz war sie bei ihrem Kind und zog es von Alan fort.
»Nichts, Mama. Ich habe nur ein Kribbeln gespürt. Und …« Sie fuhr sich mit ihren Händen über die Beine. »Und meine Knochen tun nicht mehr weh!«
»Stimmt das?« Die Augen der Frau weiteten sich. »Ist das wahr? Gott sei gepriesen! Gott sei gepriesen!« Sie wandte sich zu Alan. »Aber ist sie von der Leukämie geheilt? Wie können wir sicher sein?«
»Gehen Sie mit ihr zu ihrem Hämatologen und lassen Sie ein Blutbild machen. Dann können Sie sicher sein.«
Laurie sah ihn staunend an. »Es tut nicht mehr weh!«
»Aber wie –?«, fing die Mutter an.
Mit einem schnellen Winken wich Alan aus und überquerte den Flur zum zweiten Untersuchungszimmer. Er fühlte sich hervorragend, stark, gut. Es funktionierte! Sie war immer noch da. Die Stunde der Macht war nicht völlig vorauszuberechnen – zumindest nicht von ihm –, aber er hatte sie noch, und er hatte keine Zeit, sie mit Erklärungen zu verschwenden.
Vor ihm lag viel Arbeit.
Es war Zeit aufzuhören.
Alan hatte gerade eine seiner am meisten zufriedenstellenden Heilungen durchgeführt. Ein fünfundvierzigjähriger Mann mit einer langen Krankengeschichte von Spondylitis ankylosans mit der typischen Wirbelsäulenversteifung, deren Verkrümmung ihm das Kinn gegen die Brust gedrückt hatte.
Ein Dankeschön schluchzend, ging der Mann mit gerader Wirbelsäule und erhobenem Kopf wieder hinaus.
»Dieser Mann!«, sagte Conny. »Er war total verwachsen, als er kam!«
Alan nickte. »Ich weiß.«
»Dann ist es wirklich wahr?« Die Augen in ihrem runden Gesicht wurden immer größer.
Alan nickte wieder.
Conny stand vor ihm und gaffte ihn an. Er fühlte sich unbehaglich. »Ist der nächste Patient bereit?«, fragte er schließlich.
Sie riss sich zusammen. »Nein. Sie sagten mir, nach fünf solle ich keinen mehr hineinlassen. Und es ist jetzt zehn nach.«
Zehn nach fünf. Die Stunde der Macht war vorüber.
»Dann sagen Sie ihnen, dass für heute Schluss ist. Morgen fangen wir wieder um fünf an.«
»Das wird ihnen nicht gefallen«, sagte sie und eilte zum Eingang.
Alan streckte sich. Es war eine befriedigende Stunde gewesen – aber er übte nicht wirklich seinen Beruf aus. Es erforderte keine Erfahrung, kein besonderes Wissen, jemandem die Hände aufzulegen. Das Dat-tay-vao erledigte die Arbeit; er war lediglich der Träger, das Gefäß, das Instrument.
Ihm wurde plötzlich klar, dass er ein Werkzeug geworden war.
Der Gedanke beunruhigte ihn. Die
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