Widersacher-Zyklus 03 - Die Gabe
müssen das auch mal im Bett ausprobieren.«
Er hob das Gesicht von ihren Brüsten. »Wie wäre es mit jetzt.«
»Du machst Witze.«
»Vielleicht«, sagte er mit einem Lächeln. »Vielleicht aber auch nicht. Alles, was ich weiß, ist, dass ich mich fühle, als hätte mein Leben erst heute Nacht begonnen. Ich fühle mich aufgekratzt, euphorisch, so, als könnte ich alles erreichen. Und alles nur deinetwegen.«
»Jetzt übertreibst du aber.«
»Es stimmt. Sieh dir an, was mir in den letzten Wochen alles passiert ist. Nichts davon ist mehr von Bedeutung, jetzt, wo ich mit dir zusammen bin. Ich kann es nicht glauben, aber wenn ich dich berühre, dich liebe, dann verblasst das alles zu nichts. Zum ersten Mal in meinem Leben weiß ich nicht, was ich am nächsten Tag tun werde, und ich … es ist mir egal!«
Er stand auf und zog sich Charles’ Morgenmantel wieder an. Jetzt im Licht sah sie erst, wie dünn er war. Er hatte bestimmt nicht mehr richtig gegessen, seit seine Frau ihn verlassen hatte.
»Vielleicht solltest du auch allein diese Pizzeria aufmachen. Wenn schon nichts anderes, so bekommst du dann vielleicht etwas Fleisch auf die Knochen.«
»Vielleicht tue ich das«, sagte er und ging zurück zum Fenster.
Sie zog ihren eigenen Morgenmantel an und folgte ihm.
»Du wirst es ganz bestimmt nicht tun«, sagte sie, schlang die Arme um ihn und schmiegte sich gegen seinen Rücken. »Du wirst die Medizin niemals aufgeben, und das weißt du auch.«
»Freiwillig nicht. Aber es hat den Anschein, die Medizin gibt mich auf.«
»Du hast noch diese Gabe, nicht wahr?«
Er nickte. »Sie ist noch da.«
Sie hatte die Existenz des Dat-tay-vao immer noch nicht hundertprozentig akzeptiert. Sie glaubte Alan, und sie glaubte Ba, aber sie hatte es noch nicht funktionieren sehen, und die Vorstellung ging so weit über ihre Erfahrung hinaus, dass ihr abschließendes Urteil immer noch ausstand.
»Vielleicht solltest du sie für einige Zeit nicht benutzen.«
Sie spürte, wie er sich versteifte. »Du klingst wie Ginny. Sie wollte, dass ich seine Existenz leugne und es niemals wieder anwende.«
»Das habe ich nicht gesagt!« Sie wollte auf keinen Fall mit seiner Frau verglichen werden. »Ich denke nur, du solltest ein wenig kürzer treten. Sieh dir nur an, was mit dir passiert ist, seit du sie anwendest.«
»Du hast wohl recht. Ich sollte wohl abwarten, bis sich die Aufregung etwas gelegt hat. Aber, Sylvia …«
Sie liebte es zu hören, wenn er ihren Namen aussprach.
»Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll, aber ich kann sie fühlen . All diese kranken Menschen. Es ist, als würde jeder einzelne ein winziges Signal aussenden, und irgendwo in meinem Gehirn ist ein kleiner Empfänger, der jedes einzelne Signal aufnimmt. Sie sind da draußen. Und sie warten. Ich weiß nicht, ob ich aufhören kann – selbst wenn ich es will.«
Sie drückte ihn fester an sich. Sie erinnerte sich an den Tag, als sie zusammen gefrühstückt hatten, nachdem sie auf dem Friedhof waren, und er ihr zum ersten Mal von seiner Fähigkeit erzählt hatte. Es schien damals eine wundervolle Gabe zu sein, jetzt war es eher ein Fluch.
Plötzlich drehte er sein Gesicht zu ihr. »Jetzt, da ich hier bin, glaubst du nicht, dass es Zeit ist, die Gabe bei Jeffy anzuwenden?«
»Nein, Alan, das geht nicht!«
»Sicher doch! Komm! Ich will das tun, nicht nur für ihn, auch für dich!« Er begann, sie zur Treppe zu ziehen. »Lass uns zu ihm gehen.«
»Alan«, sagte sie, ihre Stimme bebte vor Unruhe, »er ist nicht hier. Das sagte ich dir doch – er ist bis Donnerstag in der McCready-Stiftung.«
»Oh ja«, sagte er hastig. Vielleicht zu hastig. »Es ist mir entfallen.«
Er nahm sie in die Arme.
»Kann ich die Nacht über hierbleiben? Wenn es gestattet ist, Clarence Frogman Henry zu zitieren« – seine Stimme verwandelte sich in ein tiefes Quaken – »›I ain’t got no home‹.«
»Da solltest du wohl besser bleiben!«, lachte sie.
Aber das Lachen klang hohl in ihren Ohren.
Wie konnte Alan vergessen, dass Jeffy nicht da war? Sie wusste nicht, was mit ihm los war, aber etwas stimmte nicht.
33. Charles
Charles sah auf und war überrascht, Sylvia zu sehen, die sich in der Mitarbeiterkantine ihren Weg durch die Tische zu ihm bahnte. In dem leuchtend rot-weißen Kleid, das sich eng um ihre Hüften schmiegte und die Schultern freiließ, war sie eine atemberaubende Erscheinung in dieser Wüstenei weißer Laborkittel. Ihr Lächeln war strahlend – aber es
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