Widersacher-Zyklus 03 - Die Gabe
betrogen.«
Versucht er, mich zu vergraulen?
»Und nun, da beide nicht mehr da sind, fühle ich mich frei, mit dir zusammenzusein, und das ist im Moment das Wichtigste für mich.«
Sylvia spürte, wie eine warme Welle sie überrollte. »Komm zurück zu mir«, sagte sie, aber er schien sie nicht zu hören. Sie beschloss, ihn reden zu lassen. Zum einen, weil es ihm offenbar guttat, zum anderen aber auch, weil sie wissen wollte, was er zu sagen hatte.
»Dir kann ich sogar sagen, was ich fühle. Ich kann dir nicht sagen, wann ich mich das letzte Mal jemandem geöffnet habe. Irgendjemandem. Das Problem ist, ich weiß nicht mehr weiter. Ich meine, was soll ich mit mir anfangen? Zum ersten Mal in meinem Leben weiß ich nicht, was ich will. Seit ich ein Kind war, wollte ich Arzt werden. Und weißt du, warum? Ich wollte Geld und Prestige.«
»Das glaube ich dir nicht.«
»Eigentlich wollte ich Rockstar werden, aber ich stellte fest, dass ich völlig unmusikalisch bin. Also versteifte ich mich auf die Medizin.« Er lachte. »Nein wirklich – mir ging es um Geld und Prestige. Das waren die wichtigen Dinge für diesen Jungen aus Brooklyn, für den größten Teil seines Medizinstudiums.«
»Was hat dich verändert?«
»Es war kein radikaler Wandel. Ich habe nicht alle materiellen Dinge abgelehnt und bin in Sack und Asche gegangen. Ich habe mich ganz allmählich verändert. Es begann während meiner klinischen Ausbildung, als ich zum ersten Mal Kontakt mit Patienten hatte und mir klar wurde, dass sie mehr als nur Fallbeschreibungen waren – sie bestanden aus Fleisch und Blut. Trotzdem habe ich meine alten Ziele erreicht. Das Prestige kam automatisch mit dem Diplom und das Geld dann auch. Wie einer meiner Professoren uns gelehrt hatte: ›Geht sorgsam mit euren Patienten um, und ihr braucht euch keine Sorgen um die Kasse zu machen!‹ Er hatte recht.
Also beschloss ich, der verdammt beste Arzt auf der ganzen Welt zu werden, nachdem ich meine eigene Praxis aufgemacht hatte. Und seitdem habe ich jeden Tag damit verbracht, diese Art Arzt zu sein. Aber jetzt bin ich überhaupt kein Arzt mehr. Ich bin ein Werkzeug. Ich bin so etwas wie eine organische Heilmaschine geworden. Vielleicht ist es Zeit aufzuhören.« Er lachte. »Weißt du, Tony und ich sagten einmal, wenn der Paragrafendschungel zu dicht wird und die Bürokratie zwanzig Minuten Schreibtischarbeit für jede zehn Minuten, die man mit einem Patienten verbringt, von mir verlangt, dann schmeißen wir alles hin und eröffnen eine Pizzeria.«
Schließlich wandte er sich doch vom Fenster ab.
»Wo wir gerade von Pizza reden – ich bin am Verhungern. Gibt es hier etwas Leckeres, Lady?«
Sylvia verfiel in ihre Mae-West-Pose: »Aber sicher, Süßer. Erinnerst du dich nicht mehr? Du hast gerade noch …?«
»Essen, Lady, etwas Essbares.«
»Ach, das. Dann komm mit.«
Sie griffen sich die Morgenmäntel, dann nahm sie ihn an der Hand und führte ihn in die Küche. Sie tastete in einer Schublade nach einer Taschenlampe, als die Lichter plötzlich wieder aufflammten.
»Was gibt’s denn noch?«, fragte Alan, beugte sich über ihre Schulter und linste in den Kühlschrank. Die Fächer waren so gut wie leer. Da sie Jeffy heute zur Stiftung gebracht hatte, war sie nicht zum Einkaufen gekommen.
»Nichts außer heißen Würstchen.«
»Ach. Was Sigmund Freud wohl dazu sagen würde?«
»Er würde dir raten, sie entweder zu essen oder weiterzuhungern.«
»Wenn es gar nichts anderes gibt. Pack sie in die Mikrowelle und wir wickeln sie dann in irgendwas ein.«
»Klingt schrecklich.«
»Kann auch nicht schlimmer sein als der Hackbraten, den ich gestern gegessen habe. Habe ich selbst gemacht. Hatte den Geschmack und die Konsistenz eines Briketts.« Er streckte die Zunge in einer Geste des Abscheus heraus. »Urggh.«
Sylvia lehnte sich an ihn und lachte. Das war eine Seite an Alan, die sie bisher nicht kannte. Ein kleiner Junge in ihm, den sie dort nie vermutet hätte. Wer hätte gedacht, dass der gut aussehende Dr. Bulmer, der in seiner Arbeit aufging, auch charmant und witzig war und man mit ihm Spaß haben konnte.
Sie reckte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn. Er erwiderte den Kuss. Ohne die Lippen von seinen zu lösen, warf sie die Würstchenpackung wieder in den Kühlschrank zurück und schloss die Tür. Sie legte ihm die Arme um den Hals, er hob sie hoch und trug sie in die Bibliothek zurück.
Später, als sie erschöpft auf der Couch lagen, sagte sie: »Wir
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