Widersacher-Zyklus 03 - Die Gabe
schien nicht ihm allein zu gelten – es war für die ganze Welt bestimmt.
»Du bist früh dran«, sagte er und erhob sich, als sie seinen Tisch erreichte. Sie waren erst zwei Stunden später verabredet.
»Ich weiß.« Sie zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. Die Worte quollen nur so aus ihr heraus. »Aber es sind schon drei Tage, und ich habe Jeffy vermisst und konnte nicht länger warten. Deine Sekretärin sagte mir, du wärst hier, und beschrieb mir dann den Weg, als ich ihr sagte, sie solle dich nicht anpiepen. Was ist das, was du da trinkst?«
»Tee. Möchtest du auch einen?«
Sie nickte, zog aber eine Grimasse mit Blick auf seine Tasse. »Aber nicht so etwas Heißes, Milchiges wie das da. Geeist, wenn sich das machen lässt. Und durchsichtig.«
Er ging und holte ihr einen Eistee und eine neue Tasse normalen Tee für sich selbst, und war sich bewusst, dass alle Augen ihn anstarrten und sich zweifellos fragten, wo Charles Axford diesen liebreizenden Vogel bisher verborgen gehalten hatte.
Sie nippte prüfend an ihrem Glas. »Der ist gut.« Sie sah sich um und ein schalkhaftes Lächeln umspielte ihre Lippen. »Ich hätte nie gedacht, dass du in die Betriebskantine gehen würdest.«
»Immer wenn mich ein Anflug von Selbstzweifel überkommt«, sagte er mit gespielter Ausdruckslosigkeit, »dann halte ich es für therapeutisch sinnvoll, mich unter die niedrigeren meiner Mitgeschöpfe zu mischen. Das stellt mein Vertrauen in mich selbst wieder her.«
Sylvia belohnte ihn mit einem Lächeln. »Wie geht es Jeffy?«
Sie hatte ihm diese Frage jeden Tag gestellt, seitdem sie ihn am Montag hiergelassen hatte, und er hatte es geschafft, sie hinzuhalten. Aber heute war Donnerstag, und er konnte sich nicht länger drücken. Er musste ihr reinen Wein einschenken.
»Nicht gut. Er retardiert zweifellos. Alle Tests durch die Bank bestätigen das, wenn man sie mit seiner letzten Untersuchung vergleicht. Wir haben sämtliche Tests durchgeführt – ihn mit allen möglichen Mitteln durchleuchtet, wir haben vierundzwanzig Stunden EKGs gemacht und die durch den Rechner laufen lassen. Alles normal. Mit seinem Gehirn ist alles in Ordnung.«
»Das bedeutet, du kannst nichts für ihn tun.«
»Wahrscheinlich nicht. Es gibt da ein neues Medikament, das wir ausprobieren könnten.«
»Keines von den anderen hat angeschlagen, nicht einmal das letzte, wie immer es auch hieß.«
»Dalomin. Es schlägt bei einigen autistischen Kindern an. Aber leider nicht bei Jeffy.«
»Und dieses neue?«
Er zuckte die Schultern. Es hatte den gleichen Wirkungskomplex wie Dalomin, daher würde es Jeffy wahrscheinlich genauso wenig nützen. Aber er wollte ihr Hoffnung machen. »Es kann helfen, vielleicht aber auch nicht. Zumindest wird es ihm nicht schaden.«
»Wie könnte ich ablehnen?«, fragte Sylvia mit einem Seufzer.
»Gar nicht. Ich rufe dich später an und bringe dir die Tabletten dann vorbei.«
Sylvia sah weg. »Vielleicht solltest du wissen … ich habe einen Gast.«
»Wer?« Er begriff nicht, worauf sie hinauswollte.
»Alan.«
»Bulmer?« Gottverdammt! Wohin er ging – Bulmer, Bulmer, Bulmer! »Was ist passiert? Hat seine Frau ihn rausgeschmissen?«
»Nein. Sie hat ihn verlassen.«
Charles hielt die Luft an. »Deinetwegen?«
Sylvia blickte verwirrt. »Oh nein. Wegen dieser Wunderheilungen.«
»Er kam dann also zu dir, klopfte mit einer leeren Zuckerdose an deine Tür, oder wie?«
»Charles!«, sagte sie mit einem humorlosen Lächeln. »Ich glaube, du bist eifersüchtig! Was ist mit all deinem Gerede von ›keine Beziehung‹ und persönliche Freiheit? Ich dachte, du hast versprochen, nicht zu klammern, und vor allem, niemals eine emotionale Bindung einzugehen.«
»Ja und nein!«, sagte er. Er war aufgebracht und versuchte, das zu verbergen. Er war eifersüchtig. »Aber ich kenne deine Schwächen so gut wie alle anderen.«
»Vielleicht. Aber so war es gar nicht.« Ihr Gesicht bewölkte sich. »Es war furchtbar.«
Sie erzählte ihm von dem Mob vor Bulmers Haus am Montagabend, wie sie bei ihm eingedrungen waren, wie mitgenommen er gewesen war und dass sie ihm die Klamotten fast vom Leib gerissen hatten.
Charles schauderte bei dem Gedanken, sich in solch einer Lage zu befinden. All diese Menschen, die nach einem griffen und einen anfassen wollten.
Und dann erzählte sie ihm, wie sie die Nachricht erhalten hatten, dass das Haus niedergebrannt war.
»Am Dienstag sind wir hingefahren«, sagte sie weich. »Es war nichts mehr
Weitere Kostenlose Bücher