Widersacher-Zyklus 04 - Erweckung
ich würde auch einen Psychiater brauchen, wenn mir passiert wäre, was du da durchgemacht hast.«
Gerührt durch Kays Mitgefühl traten Carol die Tränen in die Augen. Aber nein, sie würde hier nicht weinen.
»Also«, sagte sie und versuchte das Thema zu wechseln, »was steht an?«
Kay ließ ihre Hand los.
»Nicht viel. Es geht hier immer noch zu wie in einer Irrenanstalt. Ach, dein alter Freund, Mr Dodd, ist wieder da.«
»Ach nein. Wieso?«
»Er hatte diesmal einen richtigen Infarkt. Eine seiner verkalkten Arterien hat sich zugesetzt und ist großflächig geplatzt. Sie glauben nicht, dass er durchkommen wird.«
Gab es denn gar nichts Gutes mehr auf der Welt?
»Vielleicht gehe ich mal vorbei und sehe nach ihm.«
»Du hast noch Urlaub, Liebes. Außerdem wird er gar nicht wissen, dass du da bist. Seit er vor vier Tagen in die Notaufnahme eingeliefert wurde, ist er nicht mehr ansprechbar.«
»Ich glaube, ich gehe trotzdem einfach mal vorbei. Ein Freundschaftsbesuch.«
»Wie du willst.«
Carol nahm den längeren Weg zu den Aufzügen. Sie hatte es nicht eilig. Es gab nur einen anderen Ort, wo sie hingehen konnte, und das war die Villa, und da wollte sie zurzeit wirklich nicht sein. Sie überlegte, ab der nächsten Woche wieder zu arbeiten. Sie brauchte das Geld zwar wirklich nicht – all die Millionen, die Jim geerbt hatte, waren direkt auf sie übergegangen –, aber sie brauchte die Ablenkung, brauchte etwas, um die Zeit totzuschlagen. Vielleicht würde sie ihre eigenen Probleme besser in den Griff kriegen, wenn sie sich wieder um die Probleme der Patienten kümmerte.
Mr Dodd lag in einem Doppelzimmer im zweiten Stock. Weder er noch sein Zimmergenosse waren ansprechbar. Die Vorhänge waren zugezogen. Trotz des warmen Wetters und ihres dicken Pullovers und der gefütterten Schlaghose fröstelte sie in dem Zimmer.
Sie trat an sein Bett. In dem trüben Licht sah sie eine Infusionsnadel, die in den Arm führte, und einen grünen Nasenschlauch, der von dem Pflaster an seiner Oberlippe zu der Sauerstoffflasche führte, die wie ein stählerner Wachtposten am Kopfteil des Bettes stand. Seine Augen waren geschlossen, sein Gesicht schlaff, der Mund stand halb offen. Er hätte einfach nur schlafen können, aber sobald Carol seine Atemgeräusche hörte, wusste sie, dass es ihm sehr schlecht ging.
Seine Atmung erfolgte in Wellen, wobei sie flach begann, dann allmählich tiefer und tiefer wurde, bis sie seine Lungen bis zur äußersten Belastbarkeit zu beanspruchen schien, dann wurde sie wieder flacher und flacher. Bis sie aufhörte. Das war das Erschreckende daran – die Zeit, in der er überhaupt nicht atmete. Es dauerte nie länger als dreißig Sekunden, aber die zogen sich ewig hin. Und dann begann der Zyklus von Neuem.
Sie hatte das schon gesehen. Cheyne-Stokes-Atmung – so hatte es ihr einer der Internisten erklärt, als sie im letzten Jahr zum ersten Mal damit konfrontiert worden war. Es kam häufig bei Komapatienten vor, vor allem, wenn das Koma durch einen schweren Schlaganfall verursacht war.
Der arme Mr Dodd. Gerade mal eine Woche nach seiner Entlassung wieder zurück. Sie hoffte, dass die letzten Tage im Haus von Maureen glücklich und friedvoll gewesen waren. Sicherlich waren beide Töchter jetzt froh, dass sie auf sie gehört hatten. Wenn sie ihn tatsächlich in ein Pflegeheim gegeben hätten, und er hätte da den Schlaganfall bekommen, würden sie sich das wohl nie verzeihen.
Sie rückte seine Bettdecke zurecht, dann drückte sie sanft seine Hand.
Dann passierte es.
Ohne jede Vorwarnung fuhr Mr Dodd mit weit aufgerissenen Augen im Bett hoch. Die linke Seite seines Gesichts hing schlaff herab, aber die rechte war schreckensstarr, während er heisere Worte aus seinem zahnlosen, schiefen Mund hervorstieß:
»GEH WEG! GEH WEG VON MIR! GOTT HELFE MIR, GEHWEG! WEG! WEG!«
Verstört und erschreckt stolperte Carol zurück, als die Schwester hereinstürmte.
»Was ist passiert? Was haben Sie getan?«
»Nichts«, stotterte Carol. »Ich habe nur seine Hand berührt.«
Mr Dodds blicklose Augen waren noch immer weit aufgerissen und starrten direkt geradeaus. Seine bebenden Finger deuteten jedoch genau auf Carol.
»GEH WEG! GEH WEG!«
»Sie sollten besser gehen«, sagte die Schwester.
Carol brauchte keine weitere Aufforderung. Sie drehte sich um und floh aus dem Raum. Mr Dodds Stimme folgte ihr den ganzen Weg zu den Fahrstühlen.
»GEH WEG!«
Schließlich schnitten die Schiebetüren des Fahrstuhls
Weitere Kostenlose Bücher