Widersacher-Zyklus 04 - Erweckung
Sinn. Stellte sie eine zukünftige Gefahr für den Einen da? Das musste es sein. Und diese Gefahr war bedrohlich nahe. Das erklärte das Gefühl der Dringlichkeit, das die Vision begleitet hatte.
Er trommelte mit seinen knochigen Fingern auf dem Lenkrad herum, während er darauf wartete, dass die Ampel grün wurde. Er war von Long Island aus gut durchgekommen, aber er hatte immer noch den Eindruck, dass Eile geboten war.
Von außen brandete die Musik der Stadt auf den Wagen ein. Ihre täglichen Abschürfungen und Blutergüsse, die langwierigen, eiternden Geschwüre aus Schmerz und Verzweiflung erzeugten atonale Melodien, die durch seinen Kopf hallten. Um sich herum hörte er die Harmonie des Drecks, der Krankheit, des Schmerzes, des Kummers, das Unglück der Menschen, die dort zusammengepfercht waren; es summte aus den Seitenstraßen, lockte aus den schäbigen Wohnungen über den kleinen Geschäften, kreischte aus den U-Bahn-Tunneln unter dem Asphalt. Rechts von ihm schien der Union Square zu glühen und zu funkeln im Licht der Lyrik von tausend kleinen Toden, mit denen sich die drogenabhängigen Verlierer da langsam aber sicher zerstörten.
Er wünschte, er könnte anhalten und das genießen, aber er hatte zu tun. Er griff neben sich und tätschelte den sechseckigen Schaft des Stemmeisens, das an den Beifahrersitz gelehnt war.
Seine Arbeit.
Schließlich wurde es grün. Er trat auf das Gaspedal und fuhr weiter.
4.
Grace betrat ihre Wohnung und betätigte den Lichtschalter. Nichts passierte. Sie schaltete noch einmal und dann noch einmal, aber das Licht funktionierte trotzdem nicht. Die Glühbirne war schon wieder durchgebrannt. Dabei hatte sie sie erst vor ein paar Wochen ausgetauscht. Oder war das doch schon länger her? Sie erinnerte sich nicht mehr. Seit den schrecklichen Ereignissen von Sonntag ging es in ihrem Kopf drunter und drüber. Diese peinliche Szene mit Emma Stevens gestern bei der Beerdigung hatte alles nur noch schlimmer gemacht.
Wenn sie nicht gerade arbeitete, hatte sie die meiste Zeit in der Kirche verbracht, wo sie um Erleuchtung und Führung gebetet hatte. Gestern Abend hatte Martin bei ihr angerufen und gefragt, warum sie zu der Gebetsstunde am Mittwochabend nicht erschienen war. Sie hatte ihm gesagt, sie sei mit den Auserwählten fertig, hatte ihm aber nicht gesagt, wie schwer es ihr gefallen war, nicht dorthin zu gehen.
Da war immer noch etwas, was sie zu dieser Gruppe hinzog.
Sie tastete sich in die dunkle Wohnung hinein. Sie hatte nur ein paar Minuten Zeit hastig etwas zu essen, um dann noch den Bus zu erwischen, der sie pünktlich zur Arbeit brachte.
Plötzlich erstarrte sie. Da war noch jemand in ihrer Wohnung.
Ihre Augen hatten sich noch nicht an die Dunkelheit gewöhnt. Sie spürte mehr, als dass sie die Bewegung rechts von ihr – eine sehr schnelle Bewegung – sah. Instinktiv duckte sie sich und in diesem Moment zersplitterte die Vorderseite ihrer Anrichte durch die Wucht des Schlages, der ihr gegolten hatte.
Panik umklammerte ihr Herz wie eine stahlbewehrte Faust. Ein Einbrecher! Oder noch schlimmer, ein Vergewaltiger! Jemand, der sie umbringen wollte!
Während noch Glassplitter auf ihren Rücken herabregneten, kroch sie auf allen vieren weg. Hinter ihr traf etwas Schweres mit dumpfem Knall auf den Teppich.
Er muss eine Keule haben! Einen schweren Schläger! Er will mir jeden Knochen im Leib brechen!
Sie krabbelte unter den Esstisch. Etwas drosch brutal darauf ein – hart genug, dass die Tischplatte aus Mahagoni auseinanderplatzte. Mit aus der Todesangst gespeister Energie richtete sich Grace unter dem hinteren Ende des Tisches auf und benutzte dabei die zerstörte Tischplatte als Deckung. Sie wuchtete sie auf einer Seite hoch, dann gab sie ihr einen Stoß, damit sie dem Angreifer entgegenkippte.
Dann rannte sie schreiend zur Tür. Eine Hand griff nach ihrem Kragen, bekam aber nur die Kordel des Skapuliers und die Kette mit der Skapuliermedaille zu fassen. Einen Augenblick spürte sie, wie die ihr in den Hals schnitten, dann gaben sie nach und sie war frei und konnte die Tür erreichen.
Sie fummelte an dem Knauf, riss die Tür auf, stürzte in den Flur hinaus und schlug die Tür hinter sich zu. Sie schrie weiterhin, und legte sogar noch an Lautstärke zu, als etwas schwer gegen die Innenseite der Tür hämmerte und sich im Lack der Außenseite Risse zeigten. Schreiend stolperte sie zu den beiden anderen Wohnungstüren auf ihrer Etage, hämmerte dagegen und
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