Widersacher-Zyklus 04 - Erweckung
habe meinen Teil daran sowieso versaut. Es wäre nicht fair, von Ihnen zu erwarten, dass Sie sich an Ihren Teil halten.«
Bill starrte den Jungen an, der jetzt sein zielloses Schlendern durch den Raum wieder aufnahm. Und wie er ihm zusah, hörte er Jims Stimme in seinem Kopf, etwas, dass er damals in dieser Nacht voller Bier und schlechter Musik und einer Nahtod-Erfahrung im Village gesagt hatte: Wir sollten unseren eigenen Hinterhof kehren und uns um unser unmittelbares Umfeld kümmern, und uns erst dann Gedanken über den Rest der Welt machen. Wenn wir das alle tun würden, vielleicht gäbe es dann nicht so viele Dinge auf der Welt, um die wir uns Sorgen machen müssten.
Bill wusste plötzlich, was zu tun war.
»Gib mir doch bitte mal den Brief, Nicky. Ja richtig, den in der Schreibmaschine. Und den vom Superior, der daneben liegt.«
Nick reichte ihm die Papiere, dann sagte er: »Ich sollte zusehen, dass ich in meine Klasse komme.«
»Nicht so hastig.«
Bill faltete die Briefe säuberlich zusammen, dann riss er sie in der Mitte durch.
Nicky blieb der Mund offen stehen. »Was tun Sie da?«
»Ich halte ein Versprechen.«
»Aber ich sagte doch …«
»Es geht nicht nur um das Versprechen, das ich dir gegeben habe, sondern um eines, das ich mir vor langer Zeit gegeben habe.« Das, weswegen er ins Priesterseminar gegangen war. »Ob es dir gefällt oder nicht, ich werde bleiben.«
Bill fühlte sich erleichtert, fast fröhlich. Als sei ihm eine riesige Last von den Schultern genommen. Alle Zweifel, alle Bedenken waren verschwunden. Er gehörte hierher. Hier konnte er tatsächlich etwas bewirken.
»Aber ich werde nie adoptiert werden.«
»Das werden wir noch sehen. Aber du bist nicht mein einziges Problem. Ich bleibe hier, solange es das Heim gibt. Ich werde nicht gehen, bis die ganze Anstalt leer ist.«
Er sah, wie Nicky Tränen in die Augen schössen und die Wangen hinunterliefen. Nicky weinte nie. Der Anblick dieser Tränen legte einen Schalter in ihm um und er spürte, wie ihm selbst die Tränen in die Augen traten. All der Kummer, der sich seit Sonntag aufgestaut hatte, brach sich jetzt Bahn. Er versuchte, die Dämme aufrechtzuerhalten, aber es war zu spät. Bill öffnete den Mund, um Nicky zu sagen, er solle in seine Klasse gehen, aber nur ein Schluchzen drang hervor, und dann hatte er den Kopf in den Armen auf dem Schreibtisch vergraben und weinte.
»Warum musste er nur so sterben?«, hörte er seine eigene Stimme zwischen den Schluchzern hervorwürgen.
Er spürte eine kleine Hand, die seinen Rücken tätschelte, und Nickys tränenerfüllte Stimme. »Ich werde Ihr Freund sein, Pater Bill. Ich werde noch lange Zeit da sein. Ich bin Ihr Freund.«
Manhattan
3.
Die Ampel sprang auf rot und Jonah Stevens trat auf die Bremse. Er war auf der Park Avenue in Höhe der 23rd Street. Es war spät abends an einem normalen Wochentag, aber der Verkehr war immer noch sehr dicht. In dieser Stadt schien er nie zum Erliegen zu kommen.
Seit Tagen hatte er sich in einem Zustand nervöser Depression befunden, weil er befürchten musste, dass die dreißig Jahre, in denen er sich in die Zwangsjacke als ehrbares Mitglied der gemütlichen und bequemen Gemeinde von Monroe begeben hatte, für die Katz gewesen waren. Der adoptierte Junge – das Gefäß – war tot. Die Plötzlichkeit, mit der das geschehen war, hatte ihn vollkommen unvorbereitet erwischt. Das Gefäß hatte in seiner Verantwortung gelegen. Wenn das Gefäß gestorben war, ohne seinen Zweck zu erfüllen …
Aber der Eine war noch da. Er spürte es. Und jetzt, heute Nacht, hatte er eine Vision gehabt … eine blutrote Vision.
Er näherte sich seinem Ziel. Das Apartment von Carols Tante … es war nicht mehr weit entfernt … in der Gegend, die sich Gramercy Park nannte. Genau dorthin hatte ihn die Vision geschickt.
Er deckte sein gutes rechtes Auge mit der Handfläche ab, um zu sehen, ob sich im linken Auge unter der Klappe etwas regte.
Nichts.
Die Vision hatte er im Laufe des Tages mehrfach gehabt. Er hatte Grace Nevins Kopf gesehen, der von einem Stemmeisen zerschmettert wurde. Er hatte seine eigene Hand gesehen, die das Eisen führte. Die Vision forderte etwas von ihm.
Grace Nevins musste sterben.
Heute noch.
Jonah fragte sich, warum. Nicht, dass es ihm etwas ausmachte. Die fette Kuh war ihm so egal wie alle anderen auch. Er war nur neugierig, warum gerade sie.
Rache? Sie war nicht direkt an Jims Tod beteiligt, daher ergab das keinen
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