Widersacher-Zyklus 04 - Erweckung
flehte um Hilfe. Als aber niemand antwortete, rannte sie so schnell wie nur möglich die Treppe hinunter, wobei sie zweimal beinahe gestolpert und gefallen wäre.
Sie erreichte die Straße und rannte zum Münzfernsprecher an der Kreuzung, um einen Notruf abzugeben.
5.
»Er ist wirklich gründlich vorgegangen, Mrs Nevins«, meinte der junge Streifenpolizist. »Es sieht so aus, als hätte er fast ihre gesamte Wohnungseinrichtung zerschlagen.«
Grace verbesserte das ›Mrs.‹ nicht. Stattdessen starrte sie entsetzt auf die Überreste ihrer kleinen Wohnung. Gips- und Glassplitter lagen überall auf dem Boden, auf jeder Ablage, jedem Tisch. Alle ihre Statuen – die Prager Jesulein und die Marienfiguren und all die anderen – waren bis zur Unkenntlichkeit zertrümmert. Ihre Reliquien waren zu Staub zermahlen. Ihre Bibeln und die anderen heiligen Bücher waren zerfetzt. Alles –
Sie hielt inne. Nein. Das war nicht ganz richtig. Das meiste von ihrem Porzellan im Geschirrschrank war intakt. Das Telefon war aus der Wand gerissen und zerstört, aber die Bildröhre ihres Fernsehers war unversehrt. Und die Vase in der Ecke neben der Tür lag zwar auf der Seite, war aber unbeschädigt.
»Nicht alles«, sagte sie zu dem Polizisten.
»Wie bitte?«
»Er hat nur die Dinge zerstört, die eine religiöse Bedeutung haben. Nichts anderes.«
Er sah sich um und pfiff überrascht. »Sie haben recht. Ist das nicht merkwürdig?«
Grace zitterte vor Angst.
6.
Emma wartete im Bett. Es war noch früh, aber Jonah war wieder zu einem seiner kommentarlosen nächtlichen Ausflüge verschwunden. Jetzt war er zurück. Sie hörte, wie das Garagentor geschlossen wurde, dann hörte sie, wie er durch die Küche hereinkam. Ihre Erregung wuchs.
Sie hoffte, es würde so sein wie diese Montagnacht vor ein paar Wochen, als er spät abends nach Hause gekommen war und sie dann wieder und wieder rangenommen hatte. Sie brauchte jetzt wieder so eine Nacht, brauchte etwas, das die Gedanken an den armen Jimmy und seinen schrecklichen, sinnlosen Tod auslöschte. Sie hatten ihren Adoptivsohn seit seiner Heirat nicht mehr allzu oft gesehen, aber schon das Wissen, dass er nur einen Block weit weg und damit fast um die Ecke wohnte, war genug gewesen. Jetzt gab es ihn nicht mehr. Gar nicht mehr.
Und wo blieb Jonah? Weswegen brauchte er so lange?
Dann hörte sie, wie die Tür des Kühlschranks aufging, und hörte das Zischen einer geöffneten Bierdose.
Emma biss sich auf die bebende Unterlippe. Oh nein. Das Bier bedeutete, dass er nicht erregt, dass er nicht in Stimmung war. Er würde jetzt stundenlang im Dunkel der Küche sitzen und Bier trinken.
Sie drehte sich um und vergrub ihr Gesicht im Kissen, um das Schluchzen zu dämpfen, das sie nicht länger zurückhalten konnte.
XIX
Freitag, 15 März
Monroe
1.
»Liebes, du siehst gar nicht gut aus«, meinte Kay Allen. »Ich meine, so gesundheitsmäßig. Isst du überhaupt noch etwas?«
Carol blickte über den Schreibtisch auf ihre Chefin und sah wirkliche Besorgnis in ihren Augen. Bei der Arbeit im Krankenhaus hatte sie sich zwar ein dickes Fell zugelegt, was die Nöte der Patienten anging, aber Carols Befinden schien ihr wirklich am Herzen zu liegen.
»Ich fühle mich schlimmer, als ich aussehe.«
Durch die grässlichen Albträume war ihr mittlerweile fast durchgängig übel. Die Träume zusammen mit ihrer Depression und dem stetigen, dumpfen Gefühl des Verlustes hatten ihr jeden Appetit genommen. Sie wusste, sie war blass, und sie hatte abgenommen.
Sie war zum Dienst gekommen, weil sie nichts Besseres zu tun hatte. Überall sonst wurde sie an Jim erinnert. Jeder, den sie traf, schien sich ihr gegenüber unbehaglich zu fühlen. Niemand sah ihr in die Augen und manche wechselten sogar die Straßenseite, um ihr nicht begegnen zu müssen. Sie wusste, die Leute fühlten mit ihr und sie wusste auch, dass es keine Worte gab, diese Empfindungen auszudrücken. Und trotzdem wäre sie am liebsten auf eine verlassene Insel geflüchtet. Da könnte sie sich auch nicht einsamer fühlen. Tante Grace war immer noch nicht zu erreichen. Emma verstärkte ihre Trauer nur noch. Sie hatte das Gefühl, als sei sie von aller Welt alleingelassen worden.
»Vielleicht solltest du dich mal von Doktor Alberts untersuchen lassen.«
»Ich glaube, wenn, dann brauche ich eher einen Psychiater.«
Mit einer ungewohnten Geste der Zuneigung langte Kay über den Tisch und ergriff ihre Hand.
»Ach Liebes,
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