Widersacher-Zyklus 04 - Erweckung
auf. Ihre Augen waren blicklos. Ihre Zunge bewegte sich auf merkwürdige Art, als sie den Mund öffnete und zu sprechen begann. Die Worte, die aus ihr hervorbrachen, ähnelten keiner Sprache, die Grace je gehört hatte.
Plötzlich, direkt rechts neben Grace, sprang ein Mann in einem karierten Flanellhemd auf. Ihn überkamen zwar keine Schüttelkrämpfe, aber er blieb stocksteif stehen und redete in einer unbekannten Sprache, eine, die genauso klang wie die der ersten Frau. Er starrte vor sich hin und sein Kiefer klappte immer noch auf und zu, auch als er dann nichts mehr sagte.
»Hören Sie sie?«, fragte eine Stimme an ihrem Ohr.
Grace drehte sich um. Bruder Robert stand neben ihr.
»Was geschieht hier?«
»Sie sprechen in Zungen. So wie die Apostel an diesem ersten Pfingstfest.« Seine braunen Augen funkelten. »Ist das nicht unglaublich?«
Eine andere Frau stand auf und brabbelte vor sich hin.
»Drei!«, rief Bruder Robert. »Der Heilige Geist unter uns ist heute sehr stark! Und immer in der gleichen Zunge! Ich habe mir sagen lassen, dass sie in anderen Gruppen in vielen Zungen reden. Aber seit ich hier bin, haben die Auserwählten immer nur in einer Zunge geredet.«
Grace war heiß und ihre Beine zitterten. Das war nicht der sichere, vernünftige, gestandene Katholizismus, den sie kannte, mit seinen vertrauten Ritualen und den auswendig gelernten Antworten. Das hier folgte keiner Ordnung. Es war beängstigend. So wie eine dieser verrückten Zeltmissionen der wiedergeborenen Christen.
»Ich brauche frische Luft.«
»Natürlich«, sagte Bruder Robert.
Sie ließ es zu, dass er sie am Ellbogen nahm und nach oben in das Foyer des Hauses führte, wo es zwar kühl war, sie aber vor dem Nieselregen und dem Märzwind geschützt blieb.
»Das ist schon besser«, sagte sie und spürte, wie ihr Puls sich wieder auf normales Tempo verlangsamte.
»Ich weiß, dass diese Gebetstunden am Anfang ziemlich verstörend wirken können«, sagte der Mönch. »Als ich das erste Mal dabei war, wusste ich auch nicht, was ich davon halten sollte. Aber sie sind der Beweis dafür, dass der Heilige Geist stark in uns ist, dass er auf unserer Seite ist und uns weiterdrängt.«
Grace wusste nicht, ob das wirklich ein Beweis war. Zurzeit wusste sie gar nichts mehr.
»Das tut er also? Er drängt Sie weiter?«
»Ja!« In Bruder Roberts Augen war plötzlich ein harter Glanz. »Wir befinden uns im Krieg! Das Böse ist in einem Umfang auf dem Vormarsch, wie die Welt es noch nicht erlebt hat. Der Teufel in menschlicher Gestalt ist hier, nicht nur um uns das Leben zu nehmen, sondern auch unsere Seelen! Es ist Krieg, Grace Nevins! Und Sie sind ein Teil von Gottes auserwählter Armee. Der Heilige Geist hat Sie berufen! Sie können sich dem nicht entziehen!«
Grace konnte augenblicklich gar nichts tun. Sie hatte einfach nur Angst vor Bruder Robert.
»Sehen Sie«, sagte er in weicherem Ton und deutete durch das Fenster in der Eingangstür auf die Straße hinaus. »Selbst jetzt werden wir beobachtet. Ich habe den in dieser Woche schon ein paar Mal gesehen.«
Grace blickte hinaus und sah einen grauhaarigen Mann um die Sechzig, der ihnen zugewandt auf der anderen Straßenseite unter einem Baum stand. Als sie zu ihm hinüberschaute, drehte er sich um und ging davon.
2.
Die kahlen Bäume boten keinen Schutz vor dem Regen. Mr Veilleur ging die 37th Street entlang und staunte kopfschüttelnd über den Aufruhr, den er in der Welt um sich herum verspürte.
Was ging hier vor?
Nicht weit weg, nach Osten hin, verspürte er eine Zusammenballung von Chaos, die pochte wie eine entzündete, offene Wunde. All die Jahre des Friedens und jetzt das. Wieso? Warum? Was war der Auslöser?
Fragen ohne Antworten. Zumindest keine, die er hören wollte. Denn alles, was er erfahren könnte, konnte nur schlimm sein. Sehr schlimm.
Doch hier auf der 37th Street East gab es ein warmes Strahlen. Er hatte es in schwacher Form schon zuvor bemerkt, aber heute war es ungewöhnlich stark, wandte sich mit vertrauter Stimme an ihn und zog ihn zu sich hin.
In diesem Wohnblock ging etwas vor, das ein Gegengewicht zu der schwärenden Unruhe im Osten darstellte. Die Menschen in dem Haus wurden gewarnt. Sie deuteten die Warnung auf ihre Weise, kleideten sie in ihre persönlichen Mythen, aber zumindest reagierten sie.
Das gab ihm etwas Hoffnung, aber nicht viel. Die Schlachtformationen wurden neu aufgestellt. Wofür? Für ein kleines Scharmützel oder die entscheidende
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